Han Kang: "Die Vegetarierin" (Buchcover) © Aufbau Verlag

Han Kang: "Die Vegetarierin" - Fleischverweigerung als Rebellion

Stand: 10.10.2024 15:00 Uhr

So etwas Intensives und Aufwühlendes wie "Die Vegetarierin" hat man lange nicht gelesen. Die Autorin Han Kang ist als Literaturnobelpreisträgerin 2024 bekannt gegeben worden. Das verkündete die Schwedische Nobelpreisakademie. Das Buch ist 2016 beim Aufbau Verlag erschienen.

von Ulrike Sárkány

Das war ein Glücksfall für den Aufbau Verlag, dass der kleine Roman "The Vegetarian" der südkoreanischen Autorin Han Kang 2016 überraschend den Man Booker International Prize in London verliehen bekam, denn sonst hätte die Neuerscheinung auf Deutsch bestimmt nur halb so viel Aufsehen erregt. Immerhin hatte das Buch Robert Seethalers "Ein ganzes Leben" ausgestochen.

Han Kang: "Die Vegetarierin" (Buchcover) © Aufbau Verlag
Han Kang wurde im südkoreanischen Gwangju geboren. Ihr erster Roman erschien 1994. Sie lehrt am Kulturinstitut Seoul kreatives Schreiben.

Selten hat ein Titelbild so deutlich gemacht, dass es im Buch um Lust und Sinnlichkeit - und auch einen Hauch von Ekel - gehen wird: aufspringende Orchideenblüten in verschiedensten Rottönen sind mit einem saftigen Stück Rindfleisch, mit den Fingern einer Hand und einer Zunge arrangiert. Allein dafür kann man das Büchlein schon ins Herz schließen.

"Als sie sich dem Tisch näherte, an dem ich auf sie wartete, fielen mir ihre Schuhe auf. Es waren die schlichtesten schwarzen Schuhe, die man sich vorstellen kann. Und dann dieser Gang, nicht schnell, nicht langsam, nicht raumgreifend und auch nicht trippelnd. So fühlte ich mich weder von ihr angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu heiraten." Leseprobe

Einrichten in der Konvention

Han Kang eröffnet ihre Geschichte mit der Sicht eines Mannes auf seine Ehefrau. Er hat sie ausgesucht, weil er sich keinen Herausforderungen stellen mochte. Alles, was er vom Leben will, ist biedere Routine. Das heißt für einen Büroangestellten in Südkorea, dass seine Frau untertänig für ihn kocht und putzt und wäscht, während er am Arbeitsplatz ein abhängiger Untertan ist.

Als Yong-Hye beginnt, die Fleischzubereitung zu verweigern, auch keine Eier und keine Milch mehr im Haus haben will, ist ihr Mann entgeistert. Sie macht ihn gesellschaftlich unmöglich damit, dass sie tierische Nahrung ablehnt. Auch in ihrer Familie gibt es Unruhe.

AUDIO: Literaturnobelpreis geht an die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang (4 Min)

"Mein Schwiegervater packte seine Stäbchen, nahm ein Stück Schweinefleisch, stand auf, umrundete den Tisch und baute sich vor seiner Tochter auf. (...) Er hielt Yong-Hye das Fleisch vor das Gesicht. 'Iss! Gehorche deinem Vater und iss! Ich sage dir das in deinem eigenen Interesse. Du wirst sonst ernsthaft krank.“ Leseprobe

Die Szene eskaliert. Der Vater versucht, seiner Tochter das Fleisch in den Mund zu stopfen, und schlägt sie. Sie schneidet sich daraufhin das Handgelenk auf. Eine Familienszene in Seoul, die an jedem anderen Ort der Welt so ähnlich vorstellbar ist. Dem Individuum wird kein Respekt entgegengebracht, sondern es hat sich dem Willen der Gruppe zu beugen.

Flucht in Kunst

Nur einer, der Mann der Schwester, lässt sich von ihrem Widerstand gegen die Konvention inspirieren.

Die beiden entziehen sich dem Druck, indem sie ein künstlerisches Projekt miteinander beginnen. Er bemalt ihren Körper mit leuchtenden Blumen und filmt sie. Ein Akt der Rebellion! Eine orgiastische Befreiung. Die allerdings böse endet, als Yong-Hyes Schwester sie entdeckt.

"Ich habe den Notarzt gerufen.' (...) Ihr braucht ärztliche Hilfe. Alle beide." Leseprobe

Gefährdung des künstlerischen Ichs

Han Kang, die zu Hause in Südkorea seit 1993 als Dichterin bekannt ist, hat eine Parabel auf die Gefährdung des künstlerischen Ichs geschrieben. Fantasiebegabte Wesen mit einem unabhängigen Innenleben erzeugen Störungen im System, und solche Regelverletzungen werden mitunter drakonisch bestraft.

Das Hinreißende an diesem kurzen, stark verdichteten Text ist, dass er deutlich in dem Kulturkreis verankert ist, aus dem er kommt, und doch große Allgemeingültigkeit hat.

Dass der Autorin gleich für die erste Übersetzung eines ihrer Werke aus dem Koreanischen der mit 62.000 Pfund dotierte internationale Bookerpreis zugesprochen wurde, wirkt auf den ersten Blick überraschend, weil in der Vergangenheit Lebenswerke international berühmter Literaten ausgezeichnet wurden; frühere Preisträger waren Ismail Kadare, Chinua Achebe, Alice Munro, Philip Roth, Lydia Davis und László Krasznahorkai.

Aber der Preis wird ab jetzt jedes Jahr für ein ins Englische übersetztes, in Großbritannien gerade neu herausgekommenes Buch vergeben. Da hat Han Kang sich gegen Größen wie Orhan Pamuk, Elena Ferrante oder Robert Seethaler durchgesetzt. Durchaus zu Recht, denn etwas so Intensives und Aufwühlendes hat man lange nicht gelesen.  

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Die Vegetarierin

von Han Kang, Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Seitenzahl:
190 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Aufbau
Bestellnummer:
978-3-351-03653-9
Preis:
18,95 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 10.10.2024 | 13:30 Uhr

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