Simone Paganini, italienischer Theologe © Vandory
Simone Paganini, italienischer Theologe © Vandory
Simone Paganini, italienischer Theologe © Vandory
AUDIO: Von wegen Heilige Nacht! Simone Paganini widerlegt die Weihnachtsgeschichte (26 Min)

Von wegen Heilige Nacht! Simone Paganini widerlegt die Weihnachtsgeschichte

Stand: 21.12.2024 06:00 Uhr

Der katholische Theologe Simone Paganini stellt im Gespräch die Weihnachtsgeschichte und die Erzählungen über den erwachsenen Messias auf den Prüfstand. Anhand von Fakten und aktuellen Forschungsergebnissen zeichnet er ein komplett neues Bild der "Heiligen Nacht".

Es ist die wohl berühmteste und prägendste Geschichte der Menschheit: die von der Geburt Jesu. Jedes Jahr erzählen wir erneut von Maria und Josef, wie sie für eine Volkszählung nach Bethlehem reisten, dort keine Bleibe fanden und wie Jesus Christus in einem Stall zur Welt kam, in eine Krippe gelegt wurde, direkt neben Ochs und Esel; wie erst die Hirten zu Besuch kamen und dann drei Könige, angeleitet von einem Stern.

So war es nicht, kommentiert Simone Paganini, Professor für Bibeltheologie an der RWTH Aachen. Jesus sei nicht in Bethlehem, sondern in Nazareth geboren worden, nicht in einem Stall, sondern in einem Gastraum, und er wurde nicht von drei Heiligen Königen besucht, sondern von Sternendeutern auf der Durchreise. Der katholische Theologe beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit der Weihnachtsgeschichte, hat die Ursprungsquellen gelesen, die Lebensweisen der Menschen zu jener Zeit studiert und erzählt die Geburt des Messias neu.

Eines der Bücher, dass Sie mit Ihrer Frau Claudia Paganini zusammen geschrieben haben, trägt den Titel: "Von wegen Heilige Nacht!: Der große Faktencheck zur Weihnachtsgeschichte". Sie hinterfragen in diesem Buch das Wie, Wann und Wo der Weihnachtsgeschichte und Sie durchleuchten auch die Beteiligten, die in dieser Weihnachtsgeschichte auftreten. Wollen Sie uns damit Weihnachten vermiesen?

Simone Paganini: Natürlich nicht. Das Ziel des Buches ist definitiv nicht, das Ganze zu entzaubern. Es ist aber eine bibelwissenschaftliche Untersuchung, und Bibelwissenschaftler sind Theologen, die eine Mischung sind aus Historikern und Literaturwissenschaftlern: Wir nehmen diese Texte wahr, wir lesen sie, und wir analysieren sie als Literatur und als historische Literatur. Und dann stellt man als Historiker die Fragen an diese Texte, die normale Historiker stellen, nämlich: Was ist daran Mythos, und was ist daran wahr? Dann kann man die Sachen analysieren. Ich beschäftige mich mit der Weihnachtsgeschichte schon seit 15 Jahren, und das Buch ist ein bisschen das Ergebnis davon. Die Grundbotschaft ist: Man kann sehr viel aus dieser Erzählung wegtun, was man historisch nicht wirklich rechtfertigen kann, beziehungsweise wo man sogar sagen kann, dass es hundertprozentig nicht so war. Aber das, was bleibt - und das ist der Grund, wieso die Weihnachtsgeschichte nicht entzaubert wird -, ist die Grundbotschaft: Man feiert, dass Gott Mensch geworden ist. Diese Botschaft ist etwas, was trotz aller historischen Quellen, die man analysieren kann, übrig bleibt.

Was entnehmen Sie den Quellen, die Sie ausgewertet haben?

Paganini: Wir kennen alle diese Geschichte, dass Josef und Maria von Galiläa nach Judäa, also nach Bethlehem gehen, um sich dort in irgendein Steuerregister eintragen zu lassen. Da kann man mit römischen Quellen nachschauen, ob es so etwas damals gegeben hat oder nicht. Und wenn es - wie in diesem Fall - nicht so war, müssen wir überlegen, wieso das Lukas-Evangelium so eine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die übriges total glaubwürdig ist für die Leser von damals, Ende des ersten Jahrhunderts, wo wir aber ganz klar wissen, dass das historisch nicht richtig war.

Und warum wurde die Geschichte so erfunden?

Paganini: Als das Lukas-Evangelium geschrieben werde, war die Erinnerung an die Fakten weg. Das Ziel dieses Evangeliums ist es nicht, die Geschichte in unsere moderne Szene nachzuzeichnen. Das, was das Evangelium will, ist, eine Botschaft zu vermitteln. Die Botschaft ist: Jesus ist der Messias Israels, den das Volk der Juden schon ewig erwartet. Man weiß, dass es eine Tradition gibt, die besagt, dass dieser Messias ein Nachfolger Davids sein soll, und als Nachfolger Davids muss er an einem bestimmten Ort geboren werden: Bethlehem. Obwohl die Autoren des Lukas-Evangeliums wissen, dass Jesus in Nazareth geboren ist, und praktisch sein ganzes Leben dort verbracht hat, müssen sie irgendwas erfinden, damit seine Geburt nach Bethlehem verlegt wird. Und dann kommt man auf die Idee mit diesen Steuerlisten, die die Römer organisieren - was übrigens in der Tat passiert ist, aber ungefähr 70 Jahre später, aber in der Erinnerung des ersten Hörers des Evangeliums noch präsent war. Da wird diese Geschichte erzählt, dass Josef und Maria von Galiläa nach Bethlehem gehen, wo Jesus geboren wird, in der Stadt Davids.

Wie müssen wir uns die Geburt von Jesus Christus vorstellen? War das in einem Stall? Oder wie könnte das abgelaufen sein?

Paganini: Natürlich nicht in einem Stall! Wir sind im alten Orient, und der Orient ist heute noch bekannt für eine große Gastfreundschaft. Wenn man in Syrien, Israel, Palästina oder Ägypten unterwegs ist und irgendwo reinkommt, kriegt man sofort einen Kaffee oder einen Tee angeboten. Man muss sich hinsetzen und mit den Leuten reden. Aber es ist ganz wichtig, diese Verbindung zu schaffen. Und jetzt stellen Sie sich vor, in diese Gesellschaft kommt eine schwangere Frau, die gerade dabei ist, ihr Kind zu bekommen - und wo platziert man sie: in einen Stall? Total unvorstellbar. Diejenigen, die so was denken, haben keine Ahnung, wie diese altorientalische Gesellschaft funktioniert hat. Die Geburt Jesu hat sehr wahrscheinlich in einem Haus stattgefunden, so wie die Geburten damals stattfanden. Die Männer und die Tiere, die auch in diesem Hauptraum gelebt haben, waren draußen, und die Frauen haben mitgeholfen, dass die Kinder gesund auf die Welt kamen. In der Nacht, vor allem in den kalten Monaten, holte man die Tiere wieder rein. In diesem Raum gibt es eine Futterkrippe - das ist der Ort, wo die Tiere in der Nacht gefressen haben. In den meisten Fällen ist diese Futterkrippe in eine Wand eingebaut. Wir haben archäologische Belege, die so etwas zeigen. Dort wird das Kind hingelegt, weil das der sicherste Ort im Haus war.

Das Gespräch führte Andrea Schwyzer. Das komplette Interview hören Sie oben auf dieser Seite - und in der ARD Audiothek.

 

Weitere Informationen
Ein kleines Karussell steht neben einem Weihnachtsbaum, darauf und davor sind einige Menschen zu sehen. © picture alliance / NurPhoto | Jaap Arriens

Weihnachtsgedichte fürs Fest: Lustig, besinnlich und ergreifend

Die schönsten Weihnachtsgedichte für Weihnachtskarten und -grüße oder für das Aufsagen unter dem Weihnachtsbaum. mehr

Anzünden eines Adventskranzes, drei Kerzen brennen. © picture alliance / dpa-Zentralbild Foto: Stephan Schulz

Adventskranz: Die Geschichte vom Tannengrün mit vier Kerzen

Der Hamburger Johann Hinrich Wichern soll vor 185 Jahren erstmals einen großen Kranz zum Advent gestaltet haben - damals mit 24 Kerzen. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Das Gespräch | 22.12.2024 | 15:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Weihnachten

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Simone Paganini, italienischer Theologe © Vandory

Von wegen Heilige Nacht! Simone Paganini widerlegt die Weihnachtsgeschichte

Der katholische Theologe macht einen Faktencheck und zeigt: An der Weihnachtsgeschichte ist so gut wie nichts wahr. mehr