Lucian Freud und die Schönheit des Vergänglichen
2009 wurde ein Gemälde von Lucian Freud für die Rekordsumme von 33,6 Millionen Dollar versteigert. Das Bild zeigt die nackte Arbeitsamt-Angestellte Sue Tilley - in der Pose einer "schlafenden Venus". Anders als die großen Meister der Renaissance, die das mythische Thema nutzten, um junge Schönheiten nackt in Szene zu setzen, stellte der britische Maler die Liebesgöttin als eine ganz gewöhnliche Frau dar: Sein Modell war Ende 30 und wog mehr als zwei Zentner.
Solche Porträts - von ungeschönten Menschen in ihrer Vergänglichkeit - haben den 2011 verstorbenen Künstler berühmt gemacht und hängen heute in internationalen Museen. Kaum jemand weiß jedoch, dass der Enkel des Psychoanalytikers Siegmund Freud auch ein exzellenter Pflanzen-Maler war. Diesen unbekannten Teil seines Werks präsentiert der Prestel Verlag nun in einem Bildband "Lucian Freuds - Herbarium".
1943 zieht der junge Lucian Freud nach Paddington. Zwar gilt der Londoner Stadtteil laut Zeitzeugen "als gefährliche Gegend mit gewalttätigen Nachbarn", aber die niedrigen Mieten machen den zweifelhaften Ruf wett. Freud verbringt 30 produktive Jahre in dem Viertel.
Mensch und Pflanze in desolatem Zustand
Eines der bekanntesten Gemälde, die hier entstehen, ist das "Interior at Paddington" - ein Porträt seines Freundes Harry Diamond. Der Fotograf steht in Freuds Atelier, sein Haar ist ungekämmt, der Blick hinter den runden Brillengläsern geht ins Leere. Dass er sich ärgert, ist nicht zu übersehen: Diamonds Lippen sind zusammengepresst, die nikotingelben Finger verkrampfen sich zur Faust.
Irritierender als die latente Wut ist der Umstand, dass Lucian Freud dem Fotografen eine mannshohe Yucca-Palme zur Seite stellt. "Eine der denkwürdigsten Topfpflanzen in der Geschichte der Modernen Kunst" nennt Freuds Kollege Lawrence Gowning das Gewächs.
Tatsächlich drängt die Yucca-Palme den Mann geradezu in den Hintergrund. Sie ist größer als er - und in ebenso desolatem Zustand: Wie ein trostloses Schilf-Röckchen hängen die vertrockneten Blätter um den mächtigen Stamm.
Freud behandelt Pflanzen wie menschliche Modelle
Das "Interior at Paddington" bescherte dem Enkel von Siegmund Freud 1951 seinen Durchbruch als Maler. Gleichzeitig stellt das Bild ein kunsthistorisches Novum dar. Denn streng genommen ist es Doppelporträt - von einem Menschen und einer Pflanze.
Lucian Freuds langjähriger Assistent David Dawson erinnert sich: Freud behandelte Pflanzen in gleicher Weise wie menschliche Modelle: Niemals schnitt er sie zurecht oder versuchte, sie auf der Leinwand besser aussehen zu lassen."
Glücklicherweise hat Freud nicht nur vernachlässigte Yucca-Palmen gemalt, sondern auch Pflanzen von hinreißender Schönheit: blassorange Aprikosen auf zerknittertem Papier, einen Zitronenzweig mit schimmernden Früchten, dottergelbe Butterblumen, die in einem schlichten Emaille-Krug mit weißer Schafgarbe und rotem Klee um die Wette leuchten.
Freud sucht das Unverwechselbare in Menschen wie in Pflanzen
Wer in dem edel eingebundenen Leinenband "Lucian Freud - Herbarium" blättert, merkt schnell, dass Pflanzen bei ihm eine andere Rolle spielen, als in der europäischen Kunstgeschichte üblich. Traditionell dienen Bäume und Sträucher, Blüten und Ranken als Hintergrund für menschliche Figuren. Oder sie transportieren - wie im barocken Stillleben - symbolische Botschaften.
Bei Freud dagegen gibt es keine Hierarchie zwischen Mensch, Tier und Pflanze. Alles ist gleichwertig und gleich wichtig. Egal, ob er eine Distel malt oder ein Bildnis seines Künstlerfreundes Francis Bacon: Immer versucht er, den unverwechselbaren Charakter seiner menschlichen und pflanzlichen Modelle einzufangen.
"Niemals perfektioniert, verschönert oder idealisiert. Sie sind einfach das, was sie sind. Genau darin liegt ihre wahre Schönheit", findet Buchautor Giovanni Aloi. Er hat recht: Lucian Freuds "Herbarium" ist ein schöner und tröstlicher Bildband.
Dem Optimierungswahn unserer Zeit - operierten Körpern, hochgezüchtetem Gemüse und gepimpten Früchten - stellen seine Meisterwerke den Reiz des Natürlichen gegenüber: das Leben in seiner wunderbaren Vergänglichkeit, mit all seinen Mängeln und Makeln.
Begleitet werden Freuds Arbeiten in diesem Bildband von vergleichenden Illustrationen früherer Epochen und setzt sein Werk somit in einen kultur- und kunstgeschichtlichen Zusammenhang.
Lucian Freud - Herbarium
- Seitenzahl:
- 176 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- Hardcover (engl.), Pappband, 25,0 x 30,5 cm, 119 farbige Abbildungen
- Verlag:
- Prestel
- Bestellnummer:
- 978-3-7913-8533-4
- Preis:
- 45,00 €