Plakate der Konsumwelt und politischen Verirrungen
Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich Fußgänger die Straßen noch mit Pferdefuhrwerken und knatternden Automobilen teilten, sahen die Großstädte bunter aus als heute. Auf Mauern, Häuserwänden oder Litfaßsäulen: Überall klebten Plakate. Seifenhändler und Zigarrenverkäufer, Theater und Cabarets lieferten sich mit ihrer Reklame einen regelrechten Wettstreit um die Aufmerksamkeit der Passanten.
Seit es Fernsehen und Internet gibt, hat die Straßenwerbung an Bedeutung verloren. Trotzdem ist das Plakat nie ganz aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Bundestags- oder Landtagswahlen zum Beispiel wären hierzulande nicht denkbar ohne großformatige Parteien-Poster, auf denen die Spitzenkandidaten um die Wette lächeln.
Ein Buch aus dem Prestel Verlag lässt 200 Jahre Plakatkunst Revue passieren. Das reichhaltige Bildmaterial stammt aus dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Kein Wunder, denn dort lagert eine der größten und besten Plakatsammlungen Deutschlands.
Plakate vermitteln eine Botschaft
Selten hat ein Plakat einen solchen Furor ausgelöst wie das Bild, mit dem der Benetton-Konzern 1993 weltweit Werbeflächen beklebte. Die großformatige Fotografie zeigte ein T-Shirt und eine Hose in Camouflage-Design. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für eine Firma, die ihr Geld mit Mode verdient. Doch das Outfit gehörte weder zur Benetton Kollektion, noch stand es zum Verkauf. Zum Schrecken der Betrachter waren die Textilien, die auf dem Werbeposter zur Schau standen, blutgetränkt. Sie gehörten zu einer Uniform, in der ein Mensch erschossen wurde. Wer genau hinschaute, konnte sogar das Loch erkennen, das die Kugel in den Stoff gerissen hatte.
Die Idee zu dem Plakat stammte von Oliviero Toscani - damals Werbechef bei Benetton. Während der Jugoslawienkriege hatte er sich die Kleidungsstücke eines getöteten kroatischen Soldaten ins Atelier schicken lassen und sie - mit Erlaubnis von dessen Eltern - fotografiert.
"Ich war geschockt, als hätte ich die Kleider meines eigenen Sohnes empfangen." Oliviero Toscani
Verstörende Motive sorgen für öffentliche Aufmerksamkeit
Das Plakat löste Diskussionen, wütende Proteste und Gerichtsprozesse aus. Immer wieder ging es um die Frage, ob man den Tod eines Menschen für eine Werbekampagne ausschlachten darf. Bis heute hält Toscani seinen Kritikern entgegen, es sei umgekehrt: Er habe die Werbung als Vehikel genutzt, um gegen das sinnlose Sterben im Bosnienkrieg zu protestieren.
Der neue Bildband präsentiert die Benetton-Kampagne unter der Überschrift "Schockwerbung". Zu Recht: Mit seinen verstörenden Bildern hat Toscani den Wettstreit um öffentliche Aufmerksamkeit auf die Spitze getrieben. Aber auch schon hundert Jahre vor ihm versuchten Plakatgestalter, so viele Blicke wie möglich einzufangen. Mitherausgeberin Tulga Beyerle schreibt in ihrem Vorwort:
"Immer geht es um den Versuch, auf einer klar abgesteckten Fläche eine Botschaft zu vermitteln, die in kurzer Zeit und mit nachhaltiger Wirkung beim Empfänger ankommen soll, in einem endlosen und harten Wettbewerb zu unendlich vielen anderen Plakaten rundherum." Tulga Beyerle
In Frankreich haben Werbeplakate eine lange Tradition
Frankreich, wo öffentliche Aushänge - früher als im benachbarten Deutschland - schon zu Revolutionszeiten erlaubt waren, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Zentrum der Plakatkunst.
Neben Poster-Klassikern, wie den Bein-schwingenden Varieté-Tänzerinnen von Jules Chéret und Henri de Toulouse-Lautrec, wartet das Buch mit weniger bekannten Blüten der Pariser "Affichomanie" auf: Der tschechische Künstler Alfons Mucha etwa schuf Reklamebilder im schönsten Jugendstil. Egal, ob er für die Druckerei Champenois warb, für Zigarettenpapier oder Kaffee: Nie stand das Produkt im Mittelpunkt, sondern immer Frauen von hinreißender Schönheit. Das Prinzip "sex sells" hatte Mucha begriffen, lange bevor der Ausdruck existierte.
Mit 360 Beispielen liefert der Bildband reiches Material, um die Geschichte des Genres zu illustrieren. Exzellente Reproduktionen führen das Wechselspiel zwischen Kunst und kommerzieller Gestaltung vor Augen. Gleichzeitig offenbaren sie, wie öffentliche Aushänge ihre Adressaten manipulieren: Werbebilder ergreifen Partei, protestieren oder machen Propaganda, hetzen oder versöhnen, warnen oder klären auf.
Das Buch zeigt, 200 Jahre Plakatkunst spiegeln nicht nur die Verführungen der Konsumwelt, sondern auch die politischen Verirrungen, denen die Betrachter in zwei Jahrhunderten erlagen.
Die gleichnamige Ausstellung ist noch bis zum 20. September im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg zu sehen.
Das Plakat. 200 Jahre Kunst und Geschichte
- Seitenzahl:
- 384 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- Hardcover, Pappband, 384 Seiten, 22,5 x 30,0 cm, 480 farbige Abbildungen
- Verlag:
- Prestel
- Bestellnummer:
- 978-3-7913-5985-4
- Preis:
- 49,00 €