Autorin Helga Schubert: "Deutschland ist eine große Demokratie"
Die Schriftstellerin Helga Schubert hat am 1. Oktober das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Den Deutschen rät sie zu mehr demokratischem Engagement und Zuversicht.
"Ich habe mich sehr gefreut", sagt Helga Schubert. "Ich habe gleich bei Wikipedia nachgeschaut und da stand, dass Juli Zeh sich auch sehr gefreut hat. Da habe ich mir gedacht: Dann sind wir ja schon zwei!" Schubert wird am 1. Oktober im Schloss Bellevue in Berlin mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Dann erzählt die Schriftstellerin, die in Neu Meteln bei Schwerin lebt, dass sie die ganze Sache erst völlig falsch verstanden hatte. Als der Brief aus dem Bundespräsidialamt bei ihr auf dem Land in Mecklenburg eintraf, dachte sie zunächst, sie sei nur als Zuschauerin zur Zeremonie eingeladen. Erst später habe sie realisiert, dass sie selbst das Bundesverdienstkreuz am Bande erhalten soll. Da habe sie sich noch mehr gefreut, sagt Schubert lächelnd.
Seit gut sechs Jahrzehnten Schriftstellerin in zwei deutschen Staaten
"Seit heute liebe ich Helga Schubert!", so formulierte es einer der Juroren des Ingeborg-Bachmann-Preises vor vier Jahren. Der Lesewettbewerb im österreichischen Klagenfurt gilt als Königsklasse im deutschsprachigen Literaturbetrieb - und oft gewinnen ihn jüngere Schriftsteller. Als Nachwuchstalent kann man Schubert allerdings wahrlich nicht bezeichnen, denn sie war und ist seit gut sechs Jahrzehnten Schriftstellerin in zwei deutschen Staaten, in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland.
Sie gewann auch schon zuvor wichtige Preise, etwa den Heinrich-Mann-Preis oder den Hans-Fallada-Preis. Aber viele Jahre lang hatte sie nichts mehr veröffentlicht, bis dieser eine Tag beim Bachmann-Preis 2020 sie wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit katapultierte.
Ohne Schnörkel, ohne sprachliche Kunstgriffe, ohne Kitsch
Wegen der Corona-Pandemie wurde die 80-jährige Schriftstellerin aus ihrem Garten in Neu Meteln per Videokonferenz in Klagenfurt zum Wettbewerb zugeschaltet. An ihrem Gartentisch sitzend, die Wiese und Apfelbäume im Hintergrund, las sie aus ihrem Text "Vom Aufstehen". Damit begeisterte Helga Schubert nicht nur die Jury des Bachmann-Preises.
Auch Kritikerinnen wie Elke Heidenreich fanden es faszinierend, wie sie ihre persönlichen Erlebnisse und Beobachtungen in Literatur verwandeln konnte. Im später erschienenen gleichnamigen Buch schildert sie in kurzen Episoden ihr eigenes Leben und deutsch-deutsche Geschichte. Wer es liest, der weiß: Schubert ist eine große Geschichtenerzählerin. Ohne Schnörkel, ohne sprachliche Kunstgriffe, ohne Kitsch, dafür mit herzerwärmendem Humor und wunderbaren Worten.
"Demokratie ist die beste Gesellschaftsordnung, die wir haben können"
An eben diesem Gartentisch, an dem sie den Bachmann-Preis gewann, sitzt Schubert auch heute wieder. Es ist Ende September, Wolken liegen über der mecklenburgischen Weite hinter ihrem Haus. Herbstlich ist auch die Stimmung in ganz Deutschland. Viele Menschen haben Angst, Sorgen vor Krieg, vor steigenden Preisen und vor dem Aufstieg von extremistischen Parteien.
Helga Schubert aber hält Angst für einen schlechten Ratgeber. Sie sagt: "Die Demokratie ist die beste Gesellschaftsordnung, die wir haben können." Die Deutschen müssten aber einsehen, dass das nicht gottgegeben sei - und dass man sich für die Demokratie engagieren müsse.
Helga Schubert: Politische Ränder trauen sich wieder vor
Eine Pendelbewegung der Geschichte sieht sie da gerade am Werk, angestoßen von Politikern der 68er-Bewegung. Nach einer langen Phase des politischen Laissez-faire, in der alles erlaubt war und die Deutschen von ihren Regierungen quasi antiautoritär geführt worden seien, würden die politischen Ränder sich jetzt wieder trauen, dagegenzuhalten. Ein Trend, der eben auch in Ländern wie Ungarn oder Frankreich zu beobachten sei. Es gebe eben viele Menschen, die denken würden: Ich möchte weniger Alternativen haben, ich möchte mehr geführt werden. "Das ist natürlich ein gefährliches Denken", meint Schubert. Dahinter stecke Geschichtsvergessenheit und das Ignorieren von Diktatur-Erfahrungen in Ostdeutschland.
Angesichts der Wahlerfolge der AfD sollte man aber auch nicht wie das Kaninchen auf die Schlange schauen. Die möge 30 Prozent bekommen haben, aber 70 Prozent haben sie eben nicht gewählt, sagt die Schriftstellerin. Dieses "Wir sind mehr" müsse stärker betont werden.
Eine Liebe mit Herausforderungen
Schubert wurde selbst politisch aktiv während der Friedlichen Revolution 1989. Sie war Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches in Berlin und bereitete die ersten freien Wahlen in der DDR mit vor. 1994 wäre sie fast als parteilose Bundestagskandidatin für die CDU ins Rennen gegangen, nach wenigen Tagen beendete sie aber wieder ihren kurzen Ausflug in die Politik, erzählt sie uns an ihrem Gartentisch in Neu Meteln.
Das Häuschen gehört ihr und ihrem Mann seit den 1970er-Jahren. In ihrem Buch "Der heutige Tag: Ein Stundenbuch der Liebe" beschreibt sie beeindruckend das Leben und die Liebe des Ehepaars. Johannes Helm, Maler und Psychologe, ist vor vielen Jahren an Demenz erkrankt. Schubert pflegt ihn seitdem zuhause. Die Reise nach Berlin zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes ist für Schubert eine logistische Herausforderung, denn sie muss für diesen Tag eine Betreuung für ihren Mann finden. So ist es auch bei anderen Terminen. Lesereisen in größerem Ausmaß kann Schubert deshalb gar nicht unternehmen, auch als Autorin eines Bestsellers ist man heutzutage finanziell nicht auf Rosen gebettet. Ihr Mann, den sie liebevoll "Hannes" nennt, sitzt im Rollstuhl neben ihr am Gartentisch und verfolgt aufmerksam das Interview.
Eine ostdeutsche Weltbürgerin
Die Ostdeutschen, die Diktatur und die deutsche Einheit: Eine komplizierte Beziehungskiste ist das. Schubert, die einst von der Stasi bespitzelt wurde und die DDR eine "Diktatur der Gartenzwerge" nennt, warnt vor Vereinfachungen. "Die Vereinfachung schadet", mahnt die Schriftstellerin. "Ich glaube, dass es im Osten viele konstruktive Leute gibt und auch Leute, die sich kritisch mit ihrer eigenen politischen Vergangenheit auseinandersetzen." Doch die seien leise, nicht so laut wie die, die aus DDR-Zeiten immer noch Schuldgefühle mit sich herumtrügen und jetzt wieder das Gefühl hätten, dazuzugehören.
Aber die Ostdeutschen wegen der Wahlerfolge der politischen Ränder zu Antidemokraten zu erklären, sei völlig falsch. Es existierten einfach völlig andere Biografien als im Westen, sagt Schubert. Allein schon der Begriff "Ostdeutsche" sei eine gefährliche Vereinfachung. "Ich bin immer im Osten gewesen und würde mich nicht als Ostdeutsche sehen." Nicht mal als Deutsche, so Schubert. Eigentlich als Weltbürgerin, fügt sie lächelnd hinzu.
Deutsche Einheit: eine Frage von Generationen
Schubert erinnert sich: 1990 wurde sie von einer politischen Jugendorganisation nach München zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen. Dort sei sie von den jungen Leuten gefragt worden, wie lange es dauern werde, bis Ost und West überhaupt nicht mehr unterscheidbar seien. "Das weiß ich noch ganz genau, die waren völlig fertig wegen meiner Antwort." Denn die Autorin prophezeite damals, dass es noch Generationen bis zur inneren Einheit dauern werde.
Bisher hat sie recht behalten. Doch was würde Helga Schubert den Deutschen gern ins Stammbuch schreiben, wenn sie am 1. Oktober das Bundesverdienstkreuz bekommt? Die Antwort: Genauer hingucken, mehr differenzieren, mehr Humor, Verantwortung übernehmen. "Und sich auch ein bisschen freuen, dass man in Deutschland lebt. Das ist eine große Demokratie."