Wokeness, Political Correctness, Sensitivity Reading: "Alles Zensur!"
Die Altphilologin Melanie Möller kritisiert Sprachkorrekturen im Namen der Moral und fordert: Freiheit für die Literatur!
Was darf heutzutage noch gesagt oder geschrieben werden? Und was nicht? Darüber wird an Stammtischen wie Unis gleichermaßen heftig gestritten. Wie geht zum Beispiel geschlechtergerechte Sprache? Mit Gendersternchen und Sprechpause? Oder reicht das generische Maskulin? Darf man das N-Wort oder andere missliebige Wörter noch benutzen? Oder müssen Bücher - auch alte - davon bereinigt werden? Die Altphilologin Melanie Möller von der FU Berlin ärgert der Anspruch auf politische Korrektheit der Literatur so sehr, dass sie sich nun mit ihrem Buch "Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur" dagegen einsetzt.
"Ein Gespenst geht um im Literaturbetrieb," konstatiert sie. Es trage viele, meist englische Namen: "Dazu gehören 'Cancel culture', 'wokeness', 'political correctness' oder 'sensitivity reading'. Früher einmal hörte es auf den schlichten Namen Zensur." Im Gespräch mit Jürgen Deppe betont Melanie Möller, dass Leserinnen und Leser auch derbe Darstellungen ohne sogenannte "Triggerwarnungen" aushalten und Literatur einfach ästhetisch genießen würden.
Ihre Streitschrift über diese Phänomene beginnt mit den Worten "Ein Gespenst geht um im Literatur- und Kulturbetrieb". Was ist das für ein Gespenst? Ein Schreckgespenst?
Melanie Möller: Ja, ein Schreckgespenst auf den ersten Blick. Auf den zweiten ist es eigentlich ganz sympathisch, weil man es doch kontrollieren kann, würde ich sagen. Zumindest besteht meine Hoffnung darin, dass Gespenst der Zensur, wie ich es etwas vereinfacht und zugespitzt nenne, das dies dafür eingesetzt wird, dass in der Literatur ein bisschen moralisch verbessert wird, moralisch an die Literatur herangegangen wird. Das Gespenst ist eigentlich etwas, was auch dafür steht, dass die Leute sich nicht sicher sind, wie ernst das zu nehmen ist. Ist das nur eine Schreckgestalt, die nachts kommt und tagsüber wieder verschwindet? Oder lassen sich die Spuren in der Wirklichkeit greifen? Gibt es also wirklich Zensur?
Ich habe das ein bisschen aus den Debatten heraus aufgenommen, weil viele Leute meinen, es gibt gar kein Problem. Hier und da wird mein Wort geändert, aber das macht doch nichts. Die anderen haben ganz furchtbare Sorgen, dass sich demnächst alles ändern könnte. Irgendwo schien mir dann dieses Gespenster-Bild ganz gut zu passen für das, was da gerade passiert. Angsteinflößend, aber vielleicht nicht lebensbedrohlich und sehr stark von der Fantasie abhängig.
Das Gespenst trägt eigentlich nicht wirklich den Namen 'Zensur', den geben Sie ihm. Es kommt ja doch irgendwie ein bisschen gefälliger mit schöneren Namen daher.
Möller: Mit ganz schönen Namen, vor allen Dingen englischen. Ich liebe die englische Sprache, ist meine allererste Leidenschaft, noch lange vor dem Lateinischen und Griechischen. Aber diese etwas behelfsmäßigen Begriffskonstruktionen, die dann eingesetzt werden, weil sie besser klingen für Dinge, die eigentlich in den härteren vertrauteren Worten genau dasselbe meinen, die liegen mir auch sehr fern.
Wir haben Sensitivity Reading oder Wokeness und einiges mehr für Befindlichkeiten, mit denen an Literatur und Kunst herangegangen wird. Das klingt dann irgendwie aufklärerisch, wohlmeinend, aber am Ende verkörpert es doch nur das schmale und schale Bedürfnis einer Minderheit, sich den Entsetzlichkeiten des literarischen Lebens nicht aussetzen zu wollen. Insofern halte ich von diesen begrifflichen Ausdifferenzierung an diesem Punkt wenig, wiewohl sonst immer viel.
Aber was ist denn da eigentlich wirklich gemeint? Da soll irgendetwas angepasst werden an heutige, wie Sie sagen, moralische Standards, also wir gucken in Bücher von Karl May beispielsweise und finden da dieses Wort 'Indianer', dass man heute gar nicht mehr sagt. Aber ist das wirklich so, dass da eine Zensur stattfindet? Denn das ist doch im Grunde ein Hund der bellt aber nicht beißt, das wird immer wieder bemängelt, aber das Wort taucht trotzdem noch auf.
Möller: Jein, also in der Literatur ja insgesamt weniger. Ich finde auch im Umgang, in der Sprache über Literatur, merkt man schon eine sehr, sehr große Unsicherheit. Man muss immer sehr klar unterscheiden zwischen Kunst und Wirklichkeit in diesem Fall. Man kann das nicht immer so klar unterscheiden. Aber in diesem Fall glaube ich schon.
Sie haben jetzt das Wort Indianer genann, da dauert es vielleicht noch ein bisschen länger. Bei Neger ist es sicher so, dass es im Alltag schon ziemlich lange außer Gebrauch ist - außer vielleicht in bestimmten Kreisen, die es dann in bestimmten Zusammenhängen verwenden. Aber eigentlich sind das ja gesellschaftliche Entwicklungen, die durchaus stattgefunden haben und die aber jetzt nicht nachträglich auf literarische Texte oder Kunstwerke übertragen werden sollten.
Man kann sich das auch mal ganz plastisch vorstellen: Wenn man ein sogenanntes N-Wort abkürzt, lenkt man den Fokus ja ohnehin noch viel stärker drauf, als wenn man es nicht abkürzte. Wenn man das jetzt in der Kunst auch geltend machte, also Bilder entsprechend farblich retuschierte oder so, dann wäre es vielleicht noch ein bisschen drastischer, was das eigentlich bedeutet, nämlich, dass man in eine Welt der Vergangenheit eingreift oder jedenfalls eine andere Welt, und sie irgendwie versucht, ein bisschen anzupassen.
Das ist an sich auch nichts Schlechtes. Aber gerade wenn es um moralische Beweggründe geht, finde ich es heikel, weil die sich ja nun ständig ändern und man nicht mal zu einer Zeit eine irgendwie homogene Moral in verschiedenen, miteinander lebenden Kulturen hat. Insofern ist da am Ende doch immer eine besonders wohlmeinende Moral, die sich gegen andere durchsetzt. Und das finde ich dann doch sehr Zensurbegriffs-verdächtig.
Das Interview führte Jürgen Deppe.