Weihnachten: "Wer nicht gestresst ist, gilt als Verlierer der Gesellschaft"
Wir wünschen uns eine entspannte Adventszeit, doch der Stress dominiert. Kulturanthropologe Gunther Hirschfelder beschäftigt sich mit unserem Lebensgefühl in der Weihnachtszeit. Wie verlassen wir die Stressspirale?
Gunther Hirschfelder ist als Kulturanthropologe und Volkskundler Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Er setzt sich wissenschaftlich mit dem Stress in der Weihnachtszeit auseinander. Was steckt dahinter und wie können wir dem Stress entgegenwirken?
Herr Hirschfelder, ist es tatsächlich so: Sind wir in der Adventszeit außergewöhnlich gestresst?
Gunther Hirschfelder: Wir tun auf jeden Fall so. Wir haben einen anderen Stress. Vielleicht können wir den Stress auch genauer benennen, den wir haben. Wir sind nicht von etwas Diffusem gestresst wie den Rest des Jahres. Und da war dieses Jahr ja besonders anspruchsvoll mit all den Kriegen und Unruhen und der Angst vor dem Klimawandel und so weiter. Sondern wir haben einen konkreten Stress, einen niedrigschwelligen Stress, über den man auch gerne spricht: 'Ich habe noch nicht alle Geschenke. Ach, du meine Güte!'
Dann gibt es ja auch all die Erinnerungen, all die Traditionen - alles, was man jedes Jahr wieder perfekt hinkriegen möchte. Wir haben ja auch psychologisch einen irren Druck, oder?
Hirschfelder: Es fällt Menschen schwer, sich zu verorten. Die meisten von uns sind eingebunden in die Vergangenheit. Wir haben einen kulturellen Rucksack dabei. Wir erinnern das Weihnachtsfest und die Adventszeit unserer Kindheit - oder die Älteren der jungen Erwachsenenjahre - und da versuchen wir, uns daran zu orientieren. Das fällt dieses Jahr besonders schwer, weil wir in so einer Transformationszeit leben. Wir sind in einer Zeit, in der wir als Gesellschaft vom Christlichen Abstand nehmen. Es ist nicht mehr die alleinige Leitnorm unserer Gesellschaft, sondern es ist für viele zum Problemfall geworden. Und trotzdem begehen wir ein christliches Fest - auch das verursacht eine Art Orientierungsschwäche.
Gleichzeitig wird auch ein kollektiver Erwartungsdruck medial geschürt, dass alles perfekt und glänzend und einfach nur das pure Glück sein soll. Und in Wirklichkeit fühlt es sich vielleicht gar nicht so an.
Hirschfelder: Da kommen heute zwei Dinge zusammen. Wir haben mit Weihnachten eben auch einen Punkt, in dem wir lange eine Tradition hatten - der Einkehr, der Besinnung. Bis 1917 war das im katholischen Raum eine gebotene Fastenzeit, sechs Wochen und später vier Wochen vor Weihnachten. Das hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert noch fortgesetzt. Ich bin in den 60er-Jahren geboren, da gab es an Heiligabend eine Kleinigkeit wie Kartoffelsalat mit Würstchen oder Heringssalat. Das sind Reste dieser alten betulichen Zeit. Heute haben wir eine beschleunigte Zeit, in der die Adventszeit zu einer besonderen Erlebniszeit geworden ist - fast mit Oktoberfeststimmung. Aber so, dass alles vollgepackt ist mit Terminen. Und diese Termine müssen ganz perfekt sein. Sie müssen perfekt in der Küche sein. Das suggerieren zumindest die Medien häufig. Und wir haben noch einen neuen Trend dazu: Es muss toll aussehen. Wir sind in einem visuellen Zeitalter. Einfach etwas auf den Tisch zu stellen, was schmeckt, das reicht nicht. Es muss großartig aussehen. Es wird fotografiert, es wird gepostet und so weiter. Wir machen uns dann diesen Stress, indem wir auf diese Dinge überhaupt erst einsteigen. Und dann wird es anstrengend.
Wann und vor allem warum hat es denn angefangen, dass das alles so gehetzt wurde, dass es ein perfektes Bild abgeben muss, dass alles großartig sein muss?
Hirschfelder: Das ist auch ein Spiegel unserer Zeit. Wir sind eine Massenkonsumgesellschaft. Seit den 1960er-Jahren nimmt das Ganze Fahrt auf. In den 70er- und 80er-Jahren dreht sich die Konsumspirale. Wir haben einen kapitalistischen Kauf-Imperativ, der uns sagt: Du bist ein guter Mensch - nicht, wenn du an den Vater im Himmel glaubst, sondern wenn du ordentlich einkaufst. Mit der Globalisierung und dem Wegfall der Ost-West-Schranken in den 1990er-Jahren nimmt das Ganze rasant Fahrt auf. Wir sind in einer Zeit des absoluten Konsum-Kollapses, mit neuen Plattformen, mit neuen Kauf- und Bestellmöglichkeiten. Das ist einfach auch wahnsinnig anstrengend. Für viele Menschen ist das anstrengend, und es ist logisch, dass wir in dieser Zeit das so erleben.
Auf der anderen Seite sehen wir, dass wir ein mediales Bild haben von Menschen, die total gestresst sind. Und wir haben einen anderen Teil der Gesellschaft, der vielleicht gar nicht so stark partizipiert. Wir haben in vielen Regionen über 30 Prozent Menschen mit einem internationalen Hintergrund, die Weihnachten noch mal ganz anders wahrnehmen, das Schenken anders wahrnehmen. Für die spielt das vielleicht eine ganz andere oder gar keine Rolle. Da haben wir Forschungsbedarf. Wir sehen aber ganz deutlich das große Thema unserer Zeit: Einsamkeit. Wer Weihnachten und in der Adventszeit nicht durchgestresst ist, laufend eingeladen ist, laufend irgendetwas schenken und kaufen muss, der gilt dann eben als der große Verlierer oder die große Verliererin der Gesellschaft. Das ist vielleicht der Stress, der für viele am unerträglichsten ist: nicht dazuzugehören, außen zu stehen. Das ist während des Jahres schwierig und zu Weihnachten besonders schwierig.
Wenn dieser große Stress, dieses "Wir sind überall eingeladen, wir schenken uns viel, wir machen alles ganz toll" für uns schon jetzt so dazugehört, dann ist es eigentlich auch ganz schlimm. Dann brauchen wir den Stress ja quasi schon in dieser Vorweihnachtszeit.
Hirschfelder: Wir brauchen den Stress, weil wir eine Gesellschaft sind, die uns vermittelt: Man muss laufend beschäftigt sein, muss ganz wichtig sein und so weiter. Und dieser Weihnachtsstress, der gibt den Menschen oft auch ein Gefühl der Selbst-Wahrnehmbarkeit. Man hat den Eindruck, wichtig zu sein. Wichtigkeit ist wie eine Droge. Wer sich unwichtig fühlt, der hat wirklich Stress.
Wie kommen wir denn aus der Spirale wieder raus?
Hirschfelder: Grundsätzlich kommt man aus jeder Spirale raus, indem man wissenschaftlich über Dinge nachdenkt, indem man sie dekonstruiert, indem man sich das ganz klar macht. Das geht eben auf der Basis einer wissenschaftlichen Beschäftigung. Aber manchmal tut es auch nur ein Waldspaziergang alleine oder mit guten Freundinnen und Freunden darüber zu sprechen. Das hilft schon mal eine ganze Menge. Wir dürfen uns nicht so besinnungslos in diese Zeit stürzen. Das ist immer schlecht und Weihnachten ganz besonders. Also Leute, redet darüber und problematisiert das. Da muss ich es nach außen auch nicht so darstellen, als würde alles ganz super laufen. Man kann das - ich bin Rheinländer - mit einem rheinischen Humor tun oder mit einer norddeutschen Coolness und Gelassenheit. Und dann ist es halb so schlimm. Und tatsächlich ist doch der Stress dann für viele auch im Norden gar nicht so schlimm, sondern irgendwo auch ganz lustig und ganz witzig.
Das Gespräch führte Julia Westlake.