Eine Frau mit verschränkten Armen vor einem Theater © Volkstheater Rostock Foto: Dorit Gätjen

Vertrauen durch Verhaltenskodex am Volkstheater Rostock

Stand: 19.05.2023 14:29 Uhr

Durch die "Causa Til Schweiger" hat die Debatte an Fahrt aufgenommen, wie sich die Arbeitsbedingungen in der Filmbranche verbessern lassen. Kulturstaatsministerin Claudia Roth möchte unter anderem einen Verhaltenskodex für Kultur- und Medienbetriebe entwickeln.

Die schweren Vorwürfe gegen Til Schweiger werfen viele Fragen auf, was die Arbeitsbedingungen in der deutschen Filmbranche betrifft. Auch ein Video der Schauspielerin Nora Tschirner legt nahe, der tätliche Angriff Schweigers auf einen Mitarbeiter könnte nur die Spitze des Eisberges sein. Es sei ein offenes Geheimnis in der Branche, dass seit Jahrzehnten solche Zustände herrschten, so Tschirner auf ihrem Instagram-Account. Kulturstaatsministerin Claudia Roth will nun stärker gegen sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch vorgehen und unter der Federführung des Kulturrates einen Verhaltenskodex entwickeln. Dieser könnte sogar an staatliche Förderverträge geknüpft werden.

Das Volkstheater in Rostock ist in dieser Hinsicht seiner Zeit voraus und hat bereits 2018 einen Verhaltenskodex eingeführt, der nun zu einem "wertebasierten Verhaltenskodex" weiterentwickelt wurde. Cornelia Ascholl, die Leiterin der Abteilung Verwaltung, Finanzen und Controlling, berichtet, was dieser Prozess im Haus bewirkt.

Frau Ascholl, warum haben Sie am Volkstheater Rostock überhaupt einen Verhaltenskodex eingeführt?

Cornelia Ascholl: Wir haben den Verhaltenskodex im Nachgang des Weinstein Skandals eingeführt. Unser aktueller Wertekodex hatte also schon einen Vorgänger, den wir 2018 erstellt haben. Mit der Weinstein-Affäre ist die Debatte um Werte und Verhaltensweisen in einem erheblichen höheren Maß in der Gesellschaft, aber auch an den Theatern und in den Filmgesellschaften betrieben worden. Man hat gerade im künstlerischen Bereich angefangen, die Verhaltensweisen mehr zu hinterfragen. Das ist bei uns doch anders als in anderen Arbeitswelten, weil es verschiedene Sprachebenen gibt. Wir haben einen ganz normalen betrieblichen Ablauf, dann haben wir die Sprache der Produktionsteams und einen geschützten Raum der Probe. Es ist besonders wichtig, den Teams und den Künstlern zu vermitteln, wann ist dieser geschützte Raum geschlossen, wann ist die Probe beendet? Unser erster Verhaltenskodex war noch sehr stark auf die Themen Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch ausgerichtet. Dann ist die Wertediskussion dazugekommen, sodass wir dann auch Themen wie Diversität aufgegriffen haben.

Warum müssen Sie die Situation in der Probe so stark trennen von der restlichen Arbeitszeit?

Ascholl: In den Proben gibt es die Figurensprache - also Sie sind dann in einer Rolle. Da haben Sie vielleicht ein ganz anderes Verhalten oder eine andere Sprache als im echten Leben. Wenn die Probe dann beendet ist, sprechen Sie wieder als private Person mit Ihren Kolleginnen und Kollegen. Wir haben gesehen, dass es mitunter schwer ist, sofort den Schalter umzulegen. Es geht also nicht darum, eine Inszenierung zu produzieren, die verhaltenskonform ist, sondern nach dem Stück konformes Verhalten an den Tag zu legen. Das ist ein Prozess, den man im Kollegenkreis stärker reflektieren muss. Also: es kann okay sein, wenn man jemandem auf der Bühne einen Klaps auf den Po gibt - aber das ist eben auf der anderen Arbeitsebene nicht okay.

Hinzu kommt, dass wir an Theatern oder in den Orchestern hier in Deutschland starke Hierarchien haben. Immer wenn es starke Hierarchien gibt, kann es zu Abhängigkeit kommen, was wiederum auch immer zu Machtmissbrauch und zu Übergriffen führen kann. Wir haben ja nun leider schon von einigen Fällen gehört, in denen diese Abhängigkeit auch ausgenutzt wurde.

Ist die Kulturbranche deswegen auch besonders anfällig für solchen Machtmissbrauch?

Ascholl: Das denke ich schon. Bei uns am Theater befinden wir uns ja noch ein einer komfortablen Situation. Wir werden staatlich gefördert, wir haben eine große Anzahl von Festangestellten. Bei denen ist die Abhängigkeit nicht so stark ausgeprägt wie bei den freien Künstlern. Da haben Sie ein ganz anderes finanzielles Umfeld und sind viel stärker davon abhängig, den nächsten Auftrag oder die nächste Rolle zu bekommen. Da sehe ich schon die Gefahr, dass diese Abhängigkeit ausgenutzt wird. Und dann ist in der Kunst - also auf der Bühne - viel oder alles erlaubt. Das kann ich aber nicht mit rübernehmen auf die andere Ebene, das Spiel ist dann aus. Das gibt es in anderen Arbeitswelten nicht, dass man permanent den Schalter umlegen muss.

Wie Sind Sie bei der Weiterentwicklung des Wertekodex vorgegangen?

Ascholl: Wir haben uns zunächst 2021 dem Wertkodex des Deutschen Bühnenvereins, das ist der Arbeitgeberverband der Theater und Orchester, angeschlossen. Doch dann stand schnell die Frage im Raum, ob dieser Wertekodex reicht oder ob wir für unser Haus noch einen eigenen Kodex brauchen. Das haben wir nicht von oben nach unten durchgedrückt, sondern dieser neue Kodex ist in einem Prozess entstanden. Wir haben eine Arbeitsgruppe gebildet, an der Vertreter verschiedener Sparten und Abteilungen teilgenommen haben, und haben uns gefragt: Welche Werte sind für uns wichtig? Wie wollen wir den überarbeiteten Kodex aufbauen? Und was ist unser Ziel?

Auf welche Wert konnten Sie sich einigen?

Ascholl: Wir haben uns auf Werte einigen können, wie zum Beispiel der Schutz vor sexuellen Übergriffen, Machtmissbrauch, Diskriminierung, Mobbing. Die stehen für uns im Vordergrund. Wir haben lange darüber diskutiert, welche Werte wir aufnehmen, welche Gewichtung sie haben. Es ist ja klar, dass die Perspektive der einzelnen Sparten sehr unterschiedlich ist. Das ganze macht auch nur Sinn, wenn diese Werte gelebt werden. Also ist unter anderem unser Intendant Ralph Reichel in die einzelnen Abteilungen gegangen, um über die Werte vorzustellen und eventuelle Fragen zu diskutieren. Denn im Moment arbeiten wir an einer Betriebsvereinbarung und dann bekommt das ganze noch einmal eine ganz andere Dimension, denn dann hätte der Kodex ja auch eine Rechtsverbindlichkeit. Das heißt: es wären nach einem Fehlverhalten auch arbeitsrechtliche Sanktionen möglich. Der Wertekodex gilt darüber hinaus auch für unsere Gastkünstler, das haben wir vertraglich so festgelegt.

Wie kommt dieser gesamte Prozess im Haus an?

Ascholl: Sehr unterschiedlich. Einige Kollegen finden, alles was in diesem Kodex drinnen steht, ist doch völlig selbstverständlich. Andere finden es gut, dass wir über diese Dinge sprechen und dass sie wissen, wenn es Verstöße gibt, werden sie auch geschützt von der Geschäftsführung. Es ist aber ein langer Prozess, der auch mit Vertrauen zusammenhängt. Da merken wir schon, dass es noch eine gewisse Scheu gibt: Kann ich mich jetzt melden oder nicht? Bin ich einfach übersensibilisiert? Aber es tut sich langsam etwas. Im Moment gibt es eine Beschwerdestelle, aber die besteht nur aus meiner Person. Das wollen wir paritätisch aufbauen, mit Vertretern aus allen Sparten. Außerdem können sich Mitarbeiter natürlich an den Betriebsrat, die Abteilungsleitung oder auch an die externe Vertrauensstelle "Themis" wenden,

Wenn an ihrem Haus ein sexueller Übergriff passieren würde, dann könnte man das ja aber auch ohne Kodex strafrechtlich geltend machen. Was ändert der Kodex an der Situation?

Ascholl: Er ändert eine ganze Menge. Mitunter ist dem einen oder anderen gar nicht bewusst, wo ein sexueller Übergriff anfängt und wo er aufhört. Es geht ja auch nicht nur darum, dass ich physisch angegriffen werde, dass kann auch verbal oder mit Fotos passieren. Es geht darum den Blick auf das eigene Verhalten und das der Kollegen zu schärfen. Deswegen haben wir doch sehr detailliert beschrieben, was wir zum Beispiel unter sexuellen Übergriffen oder Belästigung verstehen.

Welche Veränderung erhoffen Sie sich in Ihrem Haus durch den Wertekodex?

Ascholl: Die Hoffnung ist, dass das Vertrauen wächst! Das Vertrauen zueinander, in den Schutz jedes einzelnen Kollegen, nicht nur vor den Geschäftsführern, sondern auch vor Partnern, mit denen wir zusammenarbeiten. Wir möchten den Schutzraum des Einzelnen erweitern. Jeder soll sich äußern können und ernst genommen werden, damit Probleme auch bei der Geschäftsführung ankommen. Natürlich soll man auch die Kraft gewinnt, im Ernstfall als Zeuge aufzutreten. Es ist ein langer Prozess, aber für uns ist er absolut notwendig. Ich glaube auch, dass der Wertekodex immer in Bewegung sein wird, dass unsere neue Version vielleicht schon in ein paar Jahren durch neue gesellschaftliche Debatten überholt sein wird. Es wird sicherlich neue Werte geben, mit denen wir uns beschäftigen werden müssen. Unsere Hoffnung ist wirklich, dass wir alle unser eigenes Verhalten mehr reflektieren und uns bewusster sind, wie wir uns verhalten und zu welchen Werten wir uns alle verbindlich bekannt haben

Das Interview führte Anina Pommerenke.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 13.05.2023 | 06:35 Uhr

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