Theater mitten im Leben: Wie klingen Ottenser Hinterhöfe?
Das Stück "Yol oder ein Zebrastreifen geht Sonne suchen" startete am Thalia-Theater in der Gaußstraße. Ein performativer Spaziergang führte das Publikum dann aber durch die Straßen und Höfe Altonas.
Eine Gruppe von Menschen geht im Dunkeln spazieren. Sie alle tragen geräuschunterdrückende Kopfhörer, die lila leuchten. Ein Radfahrer bleibt kurz stehen, er will das Stück nicht stören. Da die drei Schauspielerinnen aber mitten auf der Straße stehen, entscheidet er sich an ihnen vorbeizufahren. Die Geräusche, die sein Rad auf dem Kopfsteinpflaster macht, hören die Zuschauenden deutlich über ihre Kopfhörer. Die zufällig vorbeikommenden Menschen, Autos oder Hunde werden ohne es zu Wissen Teil der Aufführung.
Umgebung ist Teil der Inszenierung
Den Audiowalk begleitet ein aufgerüsteter Bollerwagen, der dies technisch ermöglicht. Installierte Mikrofone fangen den Klang der Umgebung ein. Trotzdem könnte das Stück überall spielen.
Nicht ganz Ortskundige verlieren irgendwann die Orientierung: es geht durch kleine Straßen, verschiedene Hinterhöfe, dann wieder entlang an einer belebteren Straße. Die Schauspielerinnen Solomia Kushnir, Roxana Safarabadi und Sinem Süle binden Autos in ihr Spiel mit ein, in dem sie sie durchwinken, oder einen Kiosk, an dem sie Bier kaufen wollen. Weil dieser aber geschlossen ist, zeigt ein älterer Mann mit einem Bier in der Hand, der vor dem Späti sitzt, ihnen den Weg zu einem anderen Laden. Er hat gar nicht gemerkt, dass auch er dadurch Teil der Inszenierung ist.
Musik bestimmt Rhythmus des Stücks
Wie schnell oder langsam die Gruppe unterwegs ist, entscheiden zum einen Helfende, die vorausgehen und dafür Sorge tragen, dass alle wohlbehalten durch den Straßenverkehr kommen. Aber vor allem die Musik von Yazan Al Sabbagh. Fast gehetzt folgt das Publikum an einer Stelle dem Stück, an einer anderen bewegt es sich wie in Zeitlupe, vorgeben durch den Takt. Dann stoppt die Musik und mit ihr die ganze Gruppe. Die Schauspielerinnen in den Rollen als Mercedes, Nina und Fairouzh sind wieder über die Kopfhörer zu hören. Sie sprechen über salzige Sonnenblumenkerne, tote Vögel auf der Straße und Menschen, die in den Häusern wohnten - während mobile Scheinwerfer auf die drei gerichtet sind.
Realität verwoben mit Fiktion
Inhaltlich geht es um die Vergangenheit des Viertels, wie am Kemal-Altun-Platz, an dem schon die Wahl des Ortes eine Erinnerung an Kemal Altun ist, der sich 1983 aus Angst vor einer drohenden Abschiebung das Leben nahm. Tatsächliche Geschichte verwebt sich mit den fiktiven Erinnerungen der Figuren.
Doch ist es vor allem die durch die Orte und Töne erzeugte Stimmung, die die besondere Inszenierung der künstlerischen Leiter Nail Doğan und Mohammed Ghunalm trägt. Nach dem Ende des Stückes braucht es einen Moment des Auftauchens in eine andere Realität, in der auch ohne die Kopfhörer der Sound des Viertels erklingt - nur irgendwie anders als vorher.
Für die Aufführungen am 27. und 28. September gibt es noch Restkarten. Sie sind Teil des transkulturellen Festivals "Nachbarşchaften - Komşuluklar" das noch bis zum 29. September am Thalia Gaußstraße stattfindet.