Zwischen Furcht und Faszination: Sinti und Roma in der Literatur
Seit 1971 ist der 8. April der Internationale Tag der Roma. Doch bis heute sind Sinti und Roma Vorurteilen ausgesetzt, die Schriftsteller seit Jahrhunderten in ihren Werken fortgeschrieben haben - mit Ausnahmen.
Schön, schwarzhaarig, leidenschaftlich: Die Tänzerin Carmen bricht seit mehr als einem Jahrhundert die Männerherzen auf der Opernbühne. Die literarische Vorlage für die Oper "Carmen" von Georges Bizet war eine Novelle des französischen Schriftstellers Prosper Mérimée aus dem Jahr 1845. Für seinen Text besuchte Mérimée damals eine Siedlung der Sinti und Roma in Spanien. In seinem Bericht spiegeln sich die Vorurteile der damaligen Zeit wider.
"Die Männer betreiben gewöhnlich ihr Gewerbe als Rosstäuscher, Viehquacksalber und Maultierscherer. Sie betätigen sich dazu noch als Pfannenflicker und Radbinder. Von der Schmuggelei und anderen unerlaubten Fertigkeiten ganz zu schweigen. Die Weiber wahrsagen, betteln und bieten allerhand mehr oder minder harmlose Mittelchen an." Auszug aus Prosper Mérimées "Carmen"
Mischung aus Angst und Anziehung in der Literatur
Der Pferdedieb, die Wahrsagerin, das Bettelweib - immer wieder tauchen sie auf, bei Hermann Hesse, Miguel de Cervantes, Johann Wolfgang von Goethe. Oft ging dabei von ihnen eine Mischung aus Angst und Anziehung aus: Neben der Furcht vor ihnen verkörperten sie für die Schriftsteller die Sehnsucht nach dem freien, abenteuerlichen Leben. Im deutschsprachigen Raum war es der Dichter Nikolaus Lenau, der dieser Sehnsucht mit seinem Gedicht über drei vagabundierende Sinti Ausdruck verlieh.
"Dreifach haben sie mir gezeigt
Wenn das Leben uns nachtet
Wie man's verraucht, verschläft, vergeigt
und es drei Mal verachtet."
Aus einem Gedicht von Nikolaus Lenau
Sinti und Roma blieben in Darstellung lange eindimensional
Sinti und Roma blieben in der Literatur lange Zeit eindimensional. Eigene Geschichten, differenzierte Charakterzüge wurden ihnen nur selten zugeschrieben - und wenn, wie im Falle von Esmeralda, der Heldin in Victor Hugos "Glöckner von Notre-Dame", dann stellten sie sich später als Christinnen heraus, die man als kleines Kind entführt hatte.
Ausnahme "Pole Poppenspäler" von Theodor Storm
Umso bemerkenswerter ist die Geschichte "Pole Poppenspäler" des Husumer Dichters Theodor Storm. Darin erzählt er von einem reisenden Puppenspieler, der zu Unrecht eines Verbrechens beschuldigt wird - und von einer Liebe zwischen dem Bürgersohn Paul und der Tochter des Puppenspielers.
Wo hatte ich meine Augen gehabt! Da hatte ich es ja wieder, mein Kindsgespiel, das kleine Puppenspieler-Lisei! "Wie kommst du so allein hieher, Lisei?", fragte ich. "Was ist geschehen? Wo ist denn dein Vater?" - "Im Gefängnis, Paul." - "Dein Vater, der gute Mann!" Aus Theodor Storms "Pole Poppenspäler"
Storms Novelle ist auch heute noch ein wunderbares Beispiel für Barmherzigkeit und Toleranz. Die Herkunft Liseis lässt er im Ungewissen. In einem Brief an seine Eltern berichtet er jedoch von einem Ereignis, das ihn zu dieser Geschichte inspirierte: Sein Sohn hatte eine Roma-Familie zu ihnen eingeladen, deren Vater unschuldig verdächtigt wurde - ein Akt der Nächstenliebe, die ihn schwer beeindruckt hatte.
Bis heute existieren viele Vorurteile
Bis heute sind Beispiele wie jenes von Theodor Storm selten. Denn auch nach der Zeit des Nationalsozialismus, in der mehr als 100.000 Sinti und Roma in eigens für sie errichteten Konzentrationslagern ermordet wurden, blieben viele Vorurteile bestehen. Noch in den 1990er-Jahren war ein Text von Wolfdietrich Schnurre in Schleswig-Holstein Schullektüre: Auch hier lädt ein Junge seinen Freund, Jenö, zum Familienessen ein.
"Wir tranken Kaffee und aßen Kuchen zusammen und Vater hielt sich auch wirklich hervorragend, obwohl Jenö wie ein Wiedehopf roch und sich auch sonst ziemlich seltsam benahm. Vater ging drüber weg. Als Jenö weg war, fehlte das Barometer über dem Schreibtisch. Ich war sehr bestürzt. Vater gar nicht so sehr. Sie haben andere Sitten als wir, sagte er." Auszug Wolfdietrich Schnurres "Jenö war mein Freund"
"Ede und Unku" Pflichtlektüre in ehemaliger DDR
Dass es auch anders geht, zeigt die Geschichte von "Ede und Unku" - in der ehemaligen DDR Pflichtlektüre in der Schule. Die Autorin Alex Wedding erzählt hier ebenfalls von einer Kinderfreundschaft, in der aber Ede seine Freundin gegen alle Vorurteile verteidigt. Ein Kinderbuch, das auch uns Erwachsenen heute noch ein Vorbild sein kann.
Ede sah den Jungen mit großen Augen an. "Was hast Du da gesagt?" - "Na, das kennt man doch", sagte der Junge und setzte eine wichtige Miene auf. "Das Pfeifen doch die Spatzen von den Dächern, dass die Kinder stehlen und dann schlachten und dann gibt es Delikatesswürstchen und Hackepeter zu herabgesetzten Preisen!" Er feixte überlegen. "So ein gemeiner Lügner" schrie das kleine Mädchen empört und wollte mit den Fäusten auf ihn losgehen. "Lass ihn", sagte Ede. Dann trat er ganz dicht an den Jungen heran [...] und der Junge hatte eine kräftige Backpfeife sitzen." Aus "Ede und Unku" von Alex Wedding