Şeyda Kurt: "Im Namen der Liebe wird viel Gewalt angerichtet"
Die neue Folge des Philosophie-Podcasts Tee mit Warum fragt: Was ist Liebe? Şeyda Kurt blickt kritisch auf die gängige Vorstellung von Liebe.
In ihrem Buch "Radikale Zärtlichkeit" untersucht Şeyda Kurt die Liebe im Kontext von Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus. Liebe ist ein Spiegel unserer Gesellschaft, argumentiert sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum. Einen Auszug des Gespräch lesen Sie hier. Das ganze Gespräch können Sie im Podcast Tee mit Warum in der ARD Audiothek oder als Podcast hören.
Wieso müssen wir über die Liebe nachdenken, würde es nicht reichen, Liebe zu empfinden?
Şeyda Kurt: Es gibt diese Vorstellung, dass Liebe etwas ist, das Menschen in den Schoß fällt - eine Art Naturgewalt. Wenn man in die Literatur der letzten Jahrhunderte schaut, vor allem in die bürgerliche Literatur, die meist von weißen Männern geschrieben wurde: Da gibt es oftmals dieses Motiv der Liebe als Naturgewalt, die einem Menschen zustößt. Dieses Zustoßen ist für mich schon der zentrale Begriff, der sehr viel Konfliktpotenzial birgt. Die Liebe wird häufig als etwas gedacht, das einfach passiert. Wofür Menschen kaum selbst verantwortlich sind. Und somit auch nicht für ihr Handeln, das sie im Namen der romantischen Liebe an den Tag legen. Es gibt diese Vorstellung davon, wie wir einander zu begegnen, einander zu lieben haben. Dabei wird oftmals vergessen, dass Liebe nicht im luftleeren Raum stattfindet. Liebe ist durchzogen von gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen: Patriarchat, Ausbeutung, Rassismus. Im Namen der Liebe werden diese Verhältnisse oft aufrechterhalten und stabilisiert. Da gibt es eine Wechselbeziehung - und die versuche ich mir in meinen Arbeiten anzuschauen.
Es ist sehr wichtig, sich die Liebe aus einer ethischen Perspektive anzuschauen, weil in der Liebe Menschen aufeinandertreffen, die sich so verletztlich und verunsichert zeigen, wie sonst nicht im alltäglichen Leben. Gerade weil wir in der Liebe so verletzlich sind und einander vertrauen müssen, ist es sehr wichtig über ethische Fragen nachzudenken. Wie wollen wir einander begegnen? Wie sollten wir einander begegnen?
Ist die Liebe für manche auch gefährlich?
Kurt: Das, was im Namen der Liebe getan wird, ist gefährlich. Ich würde niemals sagen, dass ein Gefühl per se gefährlich ist. Auch nicht, dass ein Gefühl gut oder schlecht ist. Mich interessiert immer der Handlungsaspekt. Wo Menschen individuell oder kollektiv im Namen eines Gefühls handeln. Im Namen der Liebe wird sehr viel Gewalt angerichtet. Das zeigt ein Blick auf die Medienschlagzeilen nach einem Femizid, wenn es in den Zeitungen 'Liebes- oder Eifersuchtsdrama' heißt. Das ist ein gesellschaftliches Problem von Patriarchat, Femizid, Gewalt gegen Frauen. Die Liebe wird dann benutzt, um auch dieses Handeln zu relativieren und die Täter werden infantilisiert.
Oftmals werden Menschen, die in Liebesbeziehungen Gewalt erfahren, sehr alleine gelassen und isoliert. Es gibt kaum einen Raum, darüber zu sprechen, was alles im Namen der Liebe schiefläuft - und welche Gewalt das hervorbringt. Auch dieses erzwungene Schweigen in der Liebe ist ein Problem: Wenn man anfängt in der romantischen Liebe zu viel zu reden, zu viel zu quatschen, dann würde das die Liebe entzaubern. Auf diese Art und Weise werden Menschen auch stillgestellt.
Würdest du soweit gehen, dass Liebe grundsätzlich ein problematisches Konzept ist?
Kurt: Liebe an sich nicht. Aber diese Vorstellung von romantischer Liebe, wie sie hoch gehalten wird: monogam als Zweierbeziehung, die auch oftmals in einer biologischen Kernfamilie von Mutter, Vater, Kinder mündet. Unsere Gesellschaft wird strukturiert von diesen ganzen kleinen Buchten von Kleinfamilien. Es gibt diesen Begriff von "Keimzelle der Nation", das ist ein nationalsozialistischer Begriff. In diesen "Keimzellen" wird so etwas wie Solidarität, Fürsorge, aber auch Besitz und Eigentum angehäuft - und im Sinne der Blutsverwandschaft weitergegeben.
Es könnte aber auch gesellschaftliche Gemeinschaftsformen geben, die sich nicht nach Blutsverwandschaft organisieren. Wo so etwas wie Solidarität, Pflege füreinander, Fürsorge, Loyailität, Vertrauen und Zärtlichkeit ganz anders organisiert sein könnten. Deswegen sage ich: Wir müssen diese Vorstellung von romantischer Liebe überkommen. Diese Vorstellung ist gefährlich, weil sie häufig auch Frauen isoliert. Weil Frauen mit der Vorstellung aufwachsen, dass sie in jedem Fall diesen anderen Part brauchen - und wer das nicht hinbekommt, ist defizitär. Sehr viele Menschen richten ihr ganzes Leben danach aus. Freundschaften und andere Formen von Gemeinschaft werden vernachlässigt. Deswegen muss diese Vorstellung überkommen werden. Vor allem ihre toxischen Ausprägungen, dass im Namen dieser romantischen Liebe alles erlaubt ist. Sie ist dieses derartige Ideal, dass auch übergriffiges Verhalten irgendwie entschuldigt.
Das Gespräch führten Denise M’Baye und Sebastian Friedrich im Philosophie-Podcast Tee mit Warum. Die ganze Folge finden Sie in der ARD Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.