"Reisen rettet die Welt": Warum wir in die Ferne ziehen sollten
Nur wer reist, kann Verständnis für die Welt und ihre Menschen entwickeln, meint Christian Schüle. Über moralische Dilemmas und den Unterschied zwischen Urlaub und Reisen spricht der Philosoph im Podcast Tee mit Warum.
Reisen ist essentiell, um andere Menschen und Kulturen zu verstehen, meint Christian Schüle. Seiner Meinung nach entsteht aus direkten Begegnungen und Erfahrungen Verständnis für das Fremde. Erfahrungen, die Virtual Reality nicht ersetzen kann.
Christian Schüle hat Philosophie, Soziologie, Politische Wissenschaft und Theologie studiert. "Vom Glück, unterwegs zu sein. Warum wir das Reisen lieben und brauchen" heißt das Buch des Schriftstellers, in dem er sich mit den verschiedenen Facetten des Reisens auseinandersetzt. Auf die Frage, ob Reisen in Zeiten von globaler Vernetzung und Umweltproblemen überhaupt noch zeitgemäß ist, antwortet er klar mit Ja. Aber: Reisen ist nicht gleich Urlaub. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Was bedeutet eigentlich reisen? Wie würdest du den Begriff vermitteln?
Christian Schüle: Ich würde den Begriff erst einmal abgrenzen. Reisen ist nicht Urlaub. Urlaub bedeutet, schon angekommen sein und Reisen ist immer auf dem Weg sein. Ich denke, wer reist, der kommt gerade deswegen nicht an. Weil er reist, sonst würde er Urlaub machen. Es klingt ein bisschen kryptisch, aber ich glaube, dass die Unterscheidung recht wichtig ist. Wobei ich beides legitim finde. Ich mache auch Urlaub, wo ich einfach nur da liege am Strand und dick werde und mir die Sonne auf den Leib brennen lasse.
Aber Reisen im Sinne, wie ich es verstehe, ist eine Form der Selbsterkenntnis. Ich reise, um mich zu finden und um die Welt aufzuspüren. Das ist in diesen Tagen eine wichtige Tätigkeit, denn wir leben in einer Zeit, in der wahrscheinlich auf höchste Art und Weise manipuliert wird, wie das noch nie der Fall war. Scripted Reality, virtuelle Realität, Deepfakes und so weiter. Wir sind permanent damit beschäftigt, uns gegen Falschheit und Simulation zu wehren. Da ist das Reisen für mich ein wichtiger Punkt zu sagen: Ich spüre leibhaftig andere Kulturen, andere Länder, mich selber auch in anderen Räumen auf.
Es ist eine andere Erfahrung, eine Gasterfahrung zu machen, als eine Migrationserfahrung. Du würdest sicherlich unterschiedlich wahrgenommen werden. Also ist es eine unterschiedliche Form der Fremdheit, oder?
Christian Schüle: Ja, völlig richtig. Das ist eine unterschiedliche Form von Fremdheit. Aber natürlich beginnt die Wahrnehmung von Fremdheit erstmal mit der Wahrnehmung der eigenen Fremdheit oder des eigenen Fremdseins. Wir wissen alle aus sozialwissenschaftlichen Studien, dass dort die Ablehnung von Fremden oder Geflüchteten am größten ist, wo am wenigsten dieser Menschen da sind. Das hat man, glaube ich, am Beispiel Sachsen oder Sachsen-Anhalt immer wieder diskutiert, dass die Menschen dort am aggressivsten gegen Fremde auftreten, wo sie am wenigsten Erfahrungen mit Fremden haben.
Deswegen finde ich es sinnvoll, wenn man als Gast in ein Land reist, ist man dort ein Fremder und wird als Gast behandelt. Das stimmt, und trotzdem mache ich die gerade schon geschilderten Erfahrungen von Fremdheit: Nämlich, wie Denise sagte, die Sprache nicht zu können, die kommunikativen Codes nicht zu können, die kulturellen Codes nicht zu kennen. Um mir das alles in gewisser Weise durch eine leibliche Anwesenheit in diesem Land auch erarbeiten zu müssen und verstehen zu müssen und mit Respekt und mit Rücksicht auf die jeweilige Kultur, in der ich bin, zu verstehen versuchen.
Wie funktioniert all das? Das ist sehr viel Arbeit an der eigenen Erkenntnis der Fremdheit und der eigenen Fremdheit. Diese Arbeit hat mir zumindest sehr geholfen nachzuvollziehen, wie es vielleicht einem Migranten, der gezwungenermaßen in unser Land kommt - nicht, weil er das freiwillig tut - ergehen muss.
Um noch mal an einen Anfang zurückzukommen, weil meine Sorge ist, dass wir in einer in einer Zeit leben, die in erster Linie virtuell vermittelt wird. Wir reden ständig über künstliche Intelligenz und Robotik, die Maschine, die Automation und so weiter, dass wir vielleicht das Reisen ein wenig verlernen. Ich habe die Sorge, dass uns da ein Stück weit eine Menschlichkeit abhanden kommen könnte.
Können wir auch Reisen, ohne weit wegzugehen? Bin ich auch eine Reisende, wenn ich einfach Beobachterin werde und ganz bewusst mein Viertel verlasse oder vielleicht sogar durch mein Viertel gehe und mir genau anschaue, was da gerade passiert?
Schüle: Natürlich ist es so, dass, wann immer ich mich auf eine Reise mache, ich auch auf eine innere Reise gehe. Ich kann auch von Hannover nach Hamburg eine ganze Menge lernen über meine Mitmenschen und auch in verschiedenen Viertel meiner eigenen Stadt. Trotzdem würde ich sagen, dass die kulturellen Codes, von denen wir jetzt gesprochen haben, in unseren Städten - trotz hohem Anteil am Migration und völlig anderen Kulturen - immer noch relativ konsistent und deckungsgleich sind.
Lange vor dem Krieg Anfang der 2000er-Jahre habe ich eine Russlandreise gemacht, und zwar von Moskau ostwärts nach Sibirien. Da habe ich so viel an verschiedenen kulturellen Codes und kommunikativen Codes gelernt, wie ich das niemals zu Hause machen würde.
Man kommt als Reisender oder als Reisende in Dörfer, wo ein enormes Maß an Armut herrscht. Das erste, was einem entgegenkommt, ist ein Mann, der einen ohne einen zu kennen einlädt zum Truthahnessen, weil er einfach nur froh ist, jemanden zu sehen. Dann steht man vor dem Problem zu sagen, eigentlich wäre das jetzt ein bisschen der Ehre zu viel, wenn du deinen einzigen Truthahn für mich schlachtest, nur weil ich dich hier besuchen komme.
Dann fängt dieses moralische Spiel mit einem selber an. Was ist jetzt die bessere Lüge? Zu sagen, ich möchte deinen Truthahn nicht haben, heißt, ihn zurückzuweisen und zu sagen, ich möchte deine Gastfreundschaft nicht haben. Oder zu sagen, ich esse dein Truthahn? Aber dann hätte ich das Problem zu wissen, dass das der Truthahn war, den er für Weihnachten aufbewahrt hat und dass die Familie dann nichts mehr zu essen hat. Also stehe ich vor dem moralischen Dilemma: Wie komme ich da jetzt raus? Ich habe das damals für mich so gelöst, dass ich sagte, ich esse kein Fleisch. Deswegen möchte ich keinen Truthahn. Mit der Konsequenz, dass die Frau des Mannes dann gesagt hat, ich zeige dir mal was.
Wir sind ins Haus gegangen und in einer Vitrine ist ein Geheimversteck. Darin hatte sie in einem großen Bottich drei riesengroße Gurken aufbewahrt. Die hat sie rausgeholt und hat gesagt, die haben wir gegen zwei Truthähne eingetauscht. Das ist der große Schatz meines Mannes, und die schneide ich jetzt auf.
Ich hatte tatsächlich nichts gewonnen durch meine Lüge. Mich hat es aber lange beschäftigt, wie man aus diesem moralischen Dilemma herauskommt. Das kann ich eurer Interpretation zufolge sicherlich auch in Hannover lernen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich so eine Erfahrung mache, ist doch eher in Sibirien gegeben.
Bleiben wir mal bei diesem moralischen Dilemma. Darin steckt eine grundlegende erkenntnistheoretische Frage. Braucht es das Sehen und Erleben der Welt als Voraussetzung für Erkenntnis? Braucht es die Horizonterweiterung, um zum Beispiel ein moralisches Dilemma aufzuspüren? Der Gegenprecher dazu wäre vielleicht Immanuel Kant, der bekanntlich Königsberg kaum oder fast gar nicht verlassen hat, und der sich doch über viele Fragen intensivere Gedanken gemacht hat und auch zu interessanten Schlüssen kam.
Schüle: Nein, die Reisen hätte er nicht gebraucht. Selbst wenn er sie gemacht hätte, wäre er vermutlich auch nicht zu anderen Ergebnissen gekommen - rein epistemisch betrachtet. Natürlich ist der erkenntnistheoretische Fortschritt der Vernunftphilosophie unabhängig davon, wie der Mensch in der Welt steht, weil die Vernunft im Grunde eine eigene Reise ist, ein eigenes Imperium: das Gehirn oder die moralischen Gesetze. Die Frage ist, welche Art von Erkenntnis du ansprichst. Ich finde Vernunftphilosophie sehr interessant, wenn sie auch sehr selbstreferenziell und analytisch ist.
Für mich hat Philosophie immer auch einen ethischen und praktischen Aspekt, der mir persönlich wichtig ist. Ich finde schon, dass man von der Welt etwas wissen muss, bevor man sie beurteilt, gerade heute, wenn sie politisch ist. Ich habe ein bisschen die Befürchtung, dass, je weniger wir uns für die Welt eigentlich interessieren, - obwohl wir in der Globalisierung leben und weltweit vernetzt sind - desto weniger werden die Erkenntnisse uns dazu bringen, den Menschen als gleichwertig und gleich zu betrachten, sondern desto stärker wird es Abgrenzungserscheinungen geben.
Deswegen würde ich immer sagen, mit Mut zur steilen These, dass aus meiner Sicht das Reisen die Welt rettet, weil wir durch die Bereisung der Welt lernen können, dass jeder Mensch überall er selbst und zugleich aber auch ein Fremder ist.
Das ist mir eine wichtige Erkenntnis, die ich überall gemacht habe. Ich teste sie überall, wo ich hinfahre. Wann bin ich ich selbst? Wann bin ich zugleich auch ein Fremder? Wer die Welt nicht anschaut, der sieht auch nicht, was der Fall ist: So sagt es Wittgenstein sinngemäß. Und wer die Welt nicht kennt, der wird sich auch selbst nicht wirklich erkennen, was jetzt in gewisser Weise ein Widerspruch zu Kant zu sein scheint, aber eigentlich keiner ist.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.