Hat Kant immer noch recht? Ein Gespräch mit Claudia Blöser
Claudia Blöser ist Professorin für Philosophie und Ethik an der Universität Augsburg. Pünktlich zum Jubiläumsjahr des großen Philosophen ist ihr Buch "Kant" in der 100-Seiten-Reihe des Reclam Verlags erschienen. Im Interview räumt sie mit dem Vorurteil des disziplinierten, zurückgezogen lebenden Sonderlings auf und zeichnet das Bild eines geselligen, witzigen Mannes mit vielen Freunden. Sie legt Stärken und Schwächen von Kants Theorien verständlich dar und zeigt Bereiche auf, in denen der Einfluss und das Denken Kants heute noch relevant sind. Einen Auszug des Gesprächs mit Claudia Blöser lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Claudia Blöser, du hast diese hundert Seiten über Kant geschrieben und ermöglichst es vielleicht auch Menschen, die nicht so tief in der Philosophie stecken, diesen Philosophen zu verstehen. Warum ist es wichtig, Kants Philosophie mit einer größeren Gruppe zu teilen?
Claudia Blöser: Der aktuelle Anlass ist natürlich Kants 300. Geburtstag im Jahr 2024. Er ist zunächst mal eine wichtige Person der deutschen Geistesgeschichte und da fragen sich natürlich viele, was hat er denn eigentlich so ungefähr gesagt? Warum beschäftigen sich Philosophen und Philosophinnen heute immer noch mit seinen Werken? Ich denke, da gibt es wirklich ziemlich viel Interessantes zu finden. Die Texte sind allerdings tatsächlich oft sehr sperrig geschrieben. Man muss schon viel Lust haben, sich mit langen Bandwurmsätzen auseinanderzusetzen. Deswegen wollte ich versuchen, seine Fragen allgemeinverständlich darzustellen. Die Fragen der Vernunft: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Und was darf ich hoffen? Das sind ganz grundlegende Fragen des Menschseins, die denke ich viele Menschen interessieren.
Wenn wir mal bei der Erkenntnistheorie bleiben und uns die Frage vergegenwärtigen, die für unsere heutige Podcast-Folge zentral ist: Hat Kant immer noch recht? Inwiefern ist der erkenntnistheoretische Ansatz von Kant heute noch relevant? Oder ist es nicht eine Diskussion, die ein paar hundert Jahre alt ist und uns gar nicht mehr so sehr interessieren sollte?
Blöser: Eine grundsätzliche Idee in Kants Erkenntnistheorie ist, dass der Mensch etwas zur Erkenntnis aktiv hinzutut. Dass die Welt nicht wie in eine leere Wachstafel etwas aufdrückt und dann erkennt der Mensch, was die Welt ihm gegeben hat. Dabei ist der Mensch einfach nur passiv. Sondern der Mensch gibt selbst etwas dazu. So etwas wie zum Beispiel die Anschauungsformen Raum und Zeit. Kants These ist, dass die Welt der Erscheinung deswegen in Raum und Zeit ist, weil wir diese Anschauungsform Raum und Zeit mitbringen, also unsere kognitive Ausstattung so ist.
Diese grundsätzliche Idee ist schon sehr spannend und kann uns heute noch etwas sagen, dass wir eben immer überlegen müssen, was geben wir selbst, wenn wir irgendeinen Gegenstand zu erkennen versuchen, in den Erkenntnisprozess mit hinein. Wir erkennen nicht einfach die Dinge, so wie sie an sich sind, also unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen, sondern es ist immer irgendetwas, was wir mit in diesen Erkenntnisprozess bringen.
Du beschreibst in deinem Buch, dass sich Kant oft juristischer Sprache bedient. Wir haben Gesetze und Ideen von einem gesellschaftlichem Zusammenleben, von denen viele sagen, dass sie auch auf Kants kategorischen Imperativ zurückzuführen seien. Kant quasi als Anstoßgeber für Recht und Ordnung - wie würdest du das sehen und auf heute beziehen?
Blöser: In Kants Moralphilosophie ist der Begriff der Würde zentral. Ich denke, das ist so ein Begriff, der Einzug ins Recht gefunden hat mit der Idee der Menschenwürde und auch mit der Idee der Menschenrechte. Kants grundsätzliche Idee ist, dass Menschen eine nicht verrechenbare Würde haben. Also grenzt er das vom Preis ab. Preise kann man verrechnen, aber die Würde ist unverrechenbar. Das geht damit einher, dass man Menschen als Zwecke an sich behandeln soll. Der Mensch ist Zweck an sich. Das ist ein wichtiger Ausdruck bei Kant und heißt, man darf Menschen nicht als bloßes Mittel verwenden, sondern immer auch als Zweck an sich behandeln.
Natürlich ist auch die Frage, was das genau bedeutet. Das geht für Kant einher mit der Idee der Würde. Menschen haben eben keinen Preis, sondern eine unberechenbare Würde. Man kann sie nicht irgendwie gegeneinander verrechnen. Und das ist Artikel eins des Grundgesetzes. Da hat sich so eine Idee niedergeschlagen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
In den letzten Jahren wurde verstärkt in Bezug auf Kant diskutiert, dass in seinen Theorien auch die Würde Grenzen hat. Inwieweit würdest du sagen, dass dieser Rassismus bei Kant, über den du am Ende deines Buch schreibst, sogar seinem Denken angelegt ist. Wie würdest du dich da positionieren?
Blöser: Zunächst einmal ist es gut, dass diese klar rassistischen Aussagen nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden. Dass man nicht mehr sagt: 'Ach, naja, das sind ja nur so wenige Stellen und wir sollten auf andere Dinge unseren Fokus richten'. Es ist gut, dass das eingehend thematisiert wird. In der Tat steht es in eklatantem Widerspruch zu Kants Idee, dass alle Menschen die gleiche Würde haben. Ich sehe das so, dass Kants Idee der Menschenwürde und die Idee der moralischen Gleichheit aller Menschen immer noch als Maßstab, als leitendes Ideal zu gelten hat. Wir sehen eben sehen, dass Kant selbst seine Ideen nicht konsequent angewandt hat und sich in Widersprüche verstrickt hat.
Jetzt zu der Frage, ob das angelegt ist. Ich glaube, die Idee der Menschenwürde ist sehr allgemein und auch die Idee der Gleichheit ist so allgemein, dass es ein Einfallstor gibt für Missbrauch. Die Idee selbst schützt nicht davor, dass sie falsch angewendet wird und falsch umgesetzt wird. Insofern würde ich denken, dass zum Beispiel Rassismus da angelegt ist. Angelegt in diesem eher schwachen Sinn, dass die Idee selbst nicht davor schützt.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.