Brauchen wir Arbeit? Mesut Bayraktar über die Philosophie Hegels
Kaum etwas prägt unser Leben so stark wie die Arbeit. Der Erste, der das erkannt hat, war der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Im Podcast Tee mit Warum sprechen Denise M'Baye und Sebastian Friedrich mit dem Autor und Philosophen Mesut Bayraktar über Hegels Verständnis von Arbeit und Gesellschaft.
Wie wurde in der Philosophiegeschichte über den Begriff der Arbeit nachgedacht?
Mesut Bayraktar: Arbeit als philosophische Kategorie hat in der Philosophiegeschichte lange Zeit eine geringfügige Rolle gespielt. In der Antike und im Mittelalter treffen wir kaum darauf. Es gibt bei Aristoteles handlungstheoretische Elemente, die sehr spannend sind. In seinem überlieferten Fragment mit dem Titel "Oeconomia" denkt er darüber nach, wie das Produkt unterschiedlicher Arbeiten denselben Wert haben kann, obwohl es sich doch um unterschiedliche Dinge handelt. In der Neuzeit - mit dem Entstehen des Kapitalismus - sind es Philosophen aus dem Umkreis des politischen Liberalismus wie David Hume, John Locke oder Benjamin Franklin, die vom Menschen als "tool making animal" sprechen, also dem Werkzeug machenden Tier.
Die gemeinsame Botschaft von diesen Leuten ist: "Die Früchte deiner Arbeit gehören dir. Wer arbeitet, dem soll auch gehören, was er hergestellt hat". Dabei entsteht auch die Ideologie vom autonomen, selbst arbeitenden Individuum, von der heute immer noch gezehrt wird: dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei. In der modernen Gesellschaft beobachten wir aber häufig genau das Gegenteil. Die Früchte meiner Arbeit gehören jemand anderem - ich bekomme allenfalls einen Lohn dafür. Dabei hätten es so Leute wie John Locke wissen können. Locke war Mitglied bei der Royal African Company und der Virginia Company, das sind Handelsgesellschaften, die aus der Versklavung von Menschen aus Afrika Profit geschlagen haben. Diese Zweischneidigkeit trifft man dort immer wieder. Richtig spannend wird es dann bei Hegel.
Mit Hegel verbinden wir eher andere große Begriffe: Dialektik, Geist, Freiheit. Welche Rolle spielt Arbeit bei Hegel?
Bayraktar: In seinen frühen Schriften schreibt er viel über die wesentlichen Merkmale des Menschseins. Da tauchen drei Begriffe auf: Sprache, Arbeit, Werkzeug. Werkzeug ist heute Arbeitsmittel - also auch die Maschine. Anders als die Philosophen des Liberalismus schaut Hegel beim Begriff der Arbeit immer auf die Gesellschaft. In welchem Kontext vollzieht sich Arbeit? Arbeit ist für ihn immer ein gesellschaftliches Verhältnis. Man denke an die Arbeitsteilung in der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn man an diese komplexen Begriffe denkt: Dialektik, Negation, Wesen, Erscheinung. Was ist das zugrunde liegende Zentrum all dieser Begriffe, dieser Bewegungen, die man bei Hegel immer wieder trifft? Ein zentrales Moment ist diese permanente Arbeitstätigkeit, die permanente Produktivität des Subjekts.
Hegel ist der erste, der die moderne Gesellschaft als Arbeits- und Tauschgesellschaft beschreibt. Dabei bemerkt er, dass Arbeit zwei Seiten hat - wie alles, was man bei Hegel antrifft. Arbeit ist zum einen ein Herrschaftsverhältnis, nachdem sich Gesellschaften gliedern. Auf der anderen Seite ist Arbeit ein Selbstbildungs- und Befreiungsverhältnis des Menschen von der Natur.
Von Hegel stammt der Satz: "Durch die Arbeit kommt das Bewusstsein zu sich selbst". Wie würdest du dieses Zitat erklären?
Bayraktar: In dem Zusammenhang muss man davon sprechen, was Entäußerung und Aneignung bei Hegel bedeuten. Mit diesem Begriffspaar beschreibt er die logische Struktur von Arbeit. Entäußerung bedeutet bei Hegel, dass der Mensch, indem er die Natur bearbeitet, aus sich heraus tritt und sein Wesen oder sein Inneres in der Welt verwirklicht. Der zweite Schritt ist, dass dieser bearbeitete Gegenstand wiederum von Menschen angeeignet wird. Es findet eine Art Rücknahme statt. Wirtschaftstheoretisch würde man von Konsumtion sprechen. Manchmal ist es so, dass der Mensch das, was er durch Arbeit hervorgebracht hat, nicht mehr so ohne Weiteres zurücknehmen kann. Weil er nicht versteht, was er gemacht hat oder weil ihm verweigert wird, das Hervorgebrachte wieder an sich zu nehmen. Dieser Widerspruch treibt den Menschen zu einer höheren Bewusstseinsform. Er denkt darüber nach: Warum ist das so? Wieso kann ich das nicht aneignen? Habe ich das gemacht? Wie habe ich das gemacht? Wie kann ich es besser machen? Das ist das, was Hegel mit diesem Satz "Durch die Arbeit, kommt das Bewusstsein zu sich selbst" meint.
Kommt das Bewusstsein auch zu sich selbst, wenn die Arbeit nicht selbst gewählt ist?
Bayraktar: Hegel geht an der Stelle direkt von einem klassengesellschaftlichen Modell aus. Er erkennt, dass Arbeit nicht nur eine Individualtätigkeit ist, sondern auch eine gesellschaftliche Tätigkeit. Das Individuum gibt einen Beitrag zu dieser gesellschaftlichen Arbeit bei. Und wenn es etwas aneignet, um seine Bedürfnisse zu erfüllen, dann verzehrt er natürlich auch die Produkte anderer. Die Frage ist: Gelingt es dem Menschen oder dem Bewusstsein durch die Arbeit (eines anderen) zu sich selbst zu kommen oder gelingt es ihm nicht? Wird die Arbeit eines anderen ihm verweigert oder seine eigene Arbeit ihm entzogen, indem der Herr die Arbeit des Knechts verbraucht? Da wird es gesellschaftstheoretisch interessant - und da findet man die Anschlussstellen an Marx.
Marx verwendet immer wieder auch den Begriff der "Entfremdeten Arbeit", den entlehnt er auch von Hegel. Was bedeutet das?
Bayraktar: Hegel ist der Erste, der erkannt hat, dass der Mensch das Produkt seiner eigenen Arbeit ist. Der Mensch wurde nicht von irgendwelchen höheren Wesen erschaffen, sondern das, was er ist, ist er durch das, was er tut. Diesen Gedanken, der den Raum der Geschichte öffnet, den erbt Marx. Marx, der die Industrialisierung im 19. Jahrhundert erlebt, beobachtet in diesem Zusammenhang, dass der arbeitenden Klasse - entgegen der Versprechen der modernen Gesellschaft - die Früchte der Arbeit verwehrt bleiben. Dass die arbeitende Klasse durch die Arbeit sogar eher immer ärmer statt reicher wird.
Diesem Gedanken geht er mit den Begriffen von Hegel auf die Spur, insbesondere in seinen frühen Schriften, wo der Begriff der Entfremdung auftaucht. Und dabei merkt er, dass die Beziehung von Entäußerung und Aneignung, die Selbstverwirklichung des Menschen, in der Realität gestört ist. Diese Störung führt er auf das Privateigentum zurück. Die Besitz- und Eigentumsverhältnisse beschreibt er als radikalen, biophysikalischen Bruch zwischen dem arbeitenden Körper und den Arbeitsmitteln, die dieser Körper braucht, um sich in der Welt zu verwirklichen.
Es gibt dann vier Formen der Entfremdung. Die erste ist, dass der arbeitende Mensch keinen Bezug mehr zum Produkt seiner Arbeit hat. Die Selbstverwirklichung ist dahin, denn das Produkt gehört dem Unternehmer - und nicht mir. Die zweite, dass der arbeitende Mensch keinen Bezug mehr zu seiner eigenen Arbeitstätigkeit hat, weil die Arbeit immer stumpfsinniger wird. Die dritte Entfremdungsform ist, dass der arbeitende Mensch zu sich selbst den Bezug verliert und zu anderen Menschen, weil er die Menschen nur noch als Einzelkämpfer erfährt - in einer allseitigen Konkurrenz. Und die vierte ist, dass der arbeitende Mensch seinen Bezug zur Gesellschaft (bei Marx "Gattungswesen") verliert. Denn die Gesellschaft wird mehr ein Mittel zum Zweck meiner persönlichen Interessen.
Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der wir uns auch über die Arbeit identifizieren. Arbeit ist Teil von Selbstverwirklichung. Nun verändert sich unsere Gesellschaft aber auch zum Beispiel durch die Digitalisierung. Kann man das in unserer heutigen Gesellschaft noch so anwenden?
Bayraktar: Unter dem Begriff der Entfremdung beschreibt Marx den Verlust von Beziehungen - von Beziehungen zu Mitmenschen, von Beziehungen zu Gesellschaft, von Beziehung zu seiner Arbeit. Dieser Beziehungsverlust bedeutet in der Moderne nichts anderes als Einsamkeit. Ich würde hinzufügen, dass Einsamkeit eine der radikalsten Formen von Unterdrückung ist.
Wenn wir an die digitalen Technologien denken, an AI oder Algorithmus betriebene Arbeitsprozesse, fällt uns auf, dass Arbeit immer anonymer, immer vereinzelter wird. Auch Plattform-ökonomisch vermittelte Arbeit - zum Beispiel Uber-Fahrer. Das gibt mir das Gefühl, ich wäre selbstständig, aber am Ende verdiene ich ziemlich wenig und bin mit den Risiken und mit der Haftung auf mich selbst zurückgeworfen. An dieser Beziehungslosigkeit leidet der Mensch. Jeder, der mal in der Leiharbeit steckte oder zum Arbeitsamt musste, spürt das hautnah. Spätestens bei dem Komplex: Wie können wir unseren Stoffwechsel mit der Natur vernünftig regeln, um die ökologische Katastrophe abzuwenden? Spätestens dann wird diese Überlegung von entfremdeter Arbeit enorm wichtig. Wir müssen die Frage stellen, wie organisieren wir Arbeit so, dass wir reich an menschlichen Beziehungen sind und dass wir nicht die Natur zerstören?
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.