Grenzenloses Wachstum: Muss wirklich alles immer größer werden?
Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem die Segnungen des immer weiter währenden Wachstums in ihr Gegenteil umschlagen. In der Biologie kennt man das Phänomen der Hypertrophie. Der Publizist Martin Tschechne denkt nach.
Es fing an mit einer besonderen Überraschung für den Kindergeburtstag: Die kleine Verena durfte ihre Freundinnen und Freunde in die Eisdiele einladen. Die Kinder fanden es toll, und gelohnt haben muss es sich auch, denn im Jahr darauf war dort schon eine Ecke mit Kinderstühlen und Tischchen eigens für solche Veranstaltungen ausgewiesen. Nebenan gab es inzwischen auch das komplette Burger-Menü mit Lawinen von Pommes, Zipfelhüten aus Glanzpapier und einem ununterbrochen quatschbereiten Clown. Der ganze Spaß ausgelegt auf anderthalb Stunden. Pauschalpreis für jedes Kind. Da hatte sich eine Marktlücke aufgetan.
Heute braucht es schon einen Event-Manager mit drei Mobiltelefonen, um die Prinzen und Prinzessinnen für ein Abenteuer mit Bespaßung in den Dinopark zu dirigieren, zur Privatvorführung in den Zirkus oder zum Torwandschießen bei Bayern München. Aber für den Moment soll es gar nicht um die Tristesse solcher Scheinwelten gehen, um die Vermarktung von Kindheit, die Standardisierung von Familienglück - sie wären hier nur Symptome. Tatsächlich geht es um den unbeirrbaren, trotzigen Glauben daran, dass alles immer größer werden muss.
Die Generation Golf und ihre fahrbaren Wohnzimmer
Autos zum Beispiel. Mehr als ein halber Meter Längenunterschied liegen zwischen dem ersten VW Golf von 1974 und dem jüngsten Modell der Baureihe acht: 20 Zentimeter in der Breite, 50 PS in der Motorisierung. Die Rede ist vom Basismodell, Spurhaltesystem und Müdigkeitserkennung sind da heute serienmäßig. Die Generation Golf hat, mal soziologisch gesprochen, die Leichtigkeit aus den Jahren des Aufbruchs abgelegt. Sie ist in die Komfortzone hineingewuchert, in der vor allem Verteidigung die Haltung prägt, viel mehr als die Lust auf Neues. Und um es gleich vorwegzunehmen: Sympathischer geworden sind ihre neuen Vertreter dabei eher nicht.
Volkswagen, Mercedes, BMW - alle haben sie in ihren fahrbaren Wohnzimmern und den panzerartigen Großstadt-Geländewagen Volumen erreicht, die den nibelungentreuen ADAC dazu veranlassen, nach noch mehr Platz auf den Straßen und noch breiteren Fahrspuren zu rufen. Als wäre nicht schon heute eine Fläche für den Straßenverkehr versiegelt, die der Größe Schleswig-Holsteins nahekommt. Wer sich aber den Spaß macht, mit so einem SUV der jüngsten Moppeligkeitsstufe in ein älteres Parkhaus zu fahren, der kann mal sehen, ob und wie er zwischen einem Q8 und einem X7 die Türen noch aufkriegt.
Wachstum über die Grenzen jeder Vernunft hinaus
Der Begriff für das Phänomen lautet Hypertrophie. Er kommt aus der Biologie und bedeutet: grenzenloses Wachstum. Bis eines Tages, mal bildlich gesprochen, die Füße unter der Last wegbrechen. Bis der Erfolg eines Systems zur Ursache seines Untergangs wird. Da gibt es Zellhaufen und ganze Organe, die unkontrolliert zu wuchern beginnen, bis der erschöpfte Organismus nicht mehr weiter kann. Die hypertrophe Vergrößerung des Herzens unter ständiger Überlastung ist lebensbedrohlich; die hypertrophen Muskelberge aus der Muckibude - nun ja, immerhin eignen sie sich gut, um das Phänomen zu illustrieren. Es geht um Wachstum über die Grenzen jeder Vernunft hinaus.
Der Sozialpsychologe Harald Welzer beschreibt den Mieter eines 20-Quadratmeter-Apartments, der auf den Balkon hinaustreten muss, weil der Bildschirm seines Riesen-Fernsehers nur von dort verzerrungsfrei zu erfassen ist. Ob Welzer sich die Witzfigur ausgedacht hat oder ihr wirklich begegnet ist, spielt gar keine Rolle - die Pointe passt! Der Mann fügt sich nahtlos in die Spätphase eines rauschhaften, blindwütigen und offensichtlich von seinem Zweck entkoppelten Konsums. Wertloser Schrott, kaum dass der Herzenswunsch befriedigt ist.
Gewaltiger Verbrauch - und das meiste fliegt auf den Müll
Zehntausend Gegenstände besitzt laut Statistischem Bundesamt der durchschnittlich wohlhabende, verantwortungsbewusste und durchschnittlich mit der Gabe zu weiser Selbstbeschränkung ausgestattete Mensch in Deutschland. 60 Kleidungsstücke pro Kopf kommen jedes Jahr hinzu. Der Verbrauch hat sich in wenigen Jahren verdoppelt. Die Delle aus Zeiten von Corona konnte zur Freude der Modeindustrie schnell ausgeglichen werden. Wobei der Begriff "Verbrauch" eigentlich nicht ganz korrekt ist. Das meiste fliegt ungetragen auf den Müll, mehr als eine Million Tonnen pro Jahr. Elf Millionen Tonnen sind es laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft bei den Lebensmitteln, ein Drittel der insgesamt produzierten und in Einkaufstaschen aus umweltfreundlichem Material nach Hause geschleppten Menge.
Wie schnell das Wachstum von Bequemlichkeit und gutem Leben seine eigene Dynamik entfaltet, zeigt das Beispiel des Wohnungsmarktes. Dort lässt sich beobachten, dass der Bedarf an Wohnraum in schönster Kontinuität wächst, und keine Finanzkrise, kein Akt des Terrors und kein Krieg in Europa kann den Trend ernsthaft erschüttern. Inzwischen stehen fast 50 Quadratmeter pro Person in der Statistik, ein volles Drittel mehr als noch zu Zeiten der Wende. Und wer nach Erklärungen für diesen beharrlichen Ausbau luxuriöser Wohnverhältnisse sucht, der kann dem Phänomen eines Wachstums, das sein Ziel aus den Augen verloren hat, gewissermaßen bei der Arbeit zuschauen.
In den Zahlen schlagen nämlich nicht wenige der geräumigen Vier- oder Fünfzimmerwohnungen zu Buche, in denen nach dem Auszug der Kinder nur noch ein oder zwei Alte zurückbleiben. Ausziehen in eine kleinere, vielleicht sogar ihren Bedürfnissen eher entsprechende Wohnung ist keine Option. Viele können die neuen Mieten einfach nicht bezahlen. Und bestimmt wäre es auch nicht ganz leicht, ihnen zu erklären, warum die neue, kleinere Wohnung teurer sein soll als die alte, die 30 Jahre lang das Heim einer wachsenden Familie war und noch immer voller Erinnerungen steckt. Doch so zynisch es klingen mag: Kann sein, dass die Lösung schon auf dem Weg ist. Denn welche Rente kann künftig noch die Heizkosten tragen?
Es gibt nur zwei Auswege
Manchmal tappt Wachstum eben in die Sackgasse. Dinosaurier wären ein schönes Beispiel: Sie wuchsen und wuchsen, bis es einfach keinen Ausweg mehr gab. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, auf so einem Kindergeburtstag im Kuschelzoo mal ein paar solcher Geschichten zu erzählen: von globalen Katastrophen, die nicht nur die Saurier, sondern ganze Ökosysteme hinwegfegten, von hoch entwickelten Kulturen, die irgendwo im Urwald versanken. Oder von der grotesken Dämlichkeit der Menschen auf der Osterinsel, die restlos alle Bäume fällten, um ihre gigantischen Götterbilder aufrichten zu können - bis eines Tages nichts von ihnen übrig blieb als kahles, bitterarmes Land und die Riesengesichter aus Stein, die aus den Tiefen der Zeit stumm über den Pazifik blicken.
Keine Sorge, es wird den Kleinen schon den Nachmittag nicht verderben; der mahnende Bericht zu den "Grenzen des Wachstums", 1972 veröffentlicht von den Zukunftsforschern des Club of Rome, hat auch zwei Generationen zuvor kaum jemanden ernsthaft erschüttert. Die große Sause ging ja erst richtig los! Globalisierung, der Boom der Finanzmärkte, die Revolution der Digitalisierung. Seit damals aber wiederholt der Autor der Studie, der Norweger Jorgen Randers, im Stakkato, dass es aus dieser Welt des exaltierten Verbrauchs von Rohstoffen und Energie nur zwei Auswege geben kann: koordinierten Rückzug, also Umdenken, Umkehr und Verzicht. Oder eben: siehe oben.
Grenzenlose Naivität
Beim Golf liegt der Grund für hypertrophes Wachstum in einer Methode von grenzenloser Naivität: Die Leute von VW befragen ihre Kunden. Was könnte euch noch gefallen? Vollautomatisches Einparken, sprachgesteuerte Navigation, alles, was ein lebenslang mit aller Sorgfalt umworbenes Ego sich so zusammenwünschen kann. Und wer weiß: Vielleicht kommt demnächst so ein Panel zur Auffassung, zum vollkommenen Glück im Auto fehlt uns noch ein Softeis-Automat. Würde irgendjemand sich wundern?
Doch halt! Bei der künstlichen Intelligenz deutet sich so etwas an wie Einsicht. Unlängst warnten gerade die, die mit denkenden und eigenmächtig handelnden Maschinen die Welt umkrempeln wollen, vor deren potenziell katastrophalen Folgen. Elon Musk zum Beispiel forderte gar ein sechsmonatiges Moratorium bei der Entwicklung - nur um ein paar Tage später sein eigenes, von KI gesteuertes Denk- und Sprechprogramm auf den Markt zu werfen. Das Publikum ist eingeladen, sich einen Reim darauf zu machen: War da wirklich ein Anflug von Verantwortungsbewusstsein zu erkennen? Oder geht es doch nur wieder um maximale Aufmerksamkeit? Will sich einer von Schuld reinwaschen, bevor er auf den verhängnisvollen Knopf drückt? Hätte man so etwas doch bei Atomkraftwerken gehört! Wir bauen die Dinger, okay, aber Vorsicht, sie könnten ganze Landstriche verwüsten. Wir bauen Autos, jede Menge, ganz nach Wunsch, aber stellt euch nicht vor, wie die Welt hundert Jahre später aussieht.
Wachstum, das zum Tode führt
Hypertrophie ist Wachstum, das zum Tode führt. In den USA, 340 Millionen Einwohner, gibt es rund 400 Millionen registrierte Schusswaffen, Tendenz: rasant steigend. Und das mit dem Tod darf man in diesem Fall ganz unmittelbar verstehen: Mehr als 40.000 Opfer von Schussverletzungen pro Jahr sind der Preis, den das Land für ein Grundrecht aus dem Jahr 1791 bezahlt. Damals ging es den Gesetzgebern darum, jederzeit und schnell eine bewaffnete Miliz einberufen zu können. Heute - so geht Hypertrophie! - haben Schnellfeuergewehre neben dem Sofa nichts mehr mit irgendeiner realen Bedrohung zu tun. Außer der durch die Schnellfeuergewehre der Nachbarn.