"Once in a lifetime": Bayer Leverkusen ist Fußballmeister 2024
Seit dem 14. April ist klar: Bayer 04 Leverkusen ist deutscher Fußballmeister 2024. NDR Literaturredakteur Alexander Solloch ist seit 35 Jahren Leverkusen-Anhänger und jetzt ein bisschen gefühlsverwirrt - nicht nur in seiner Glosse.
"Weil es Spaß macht." Das war immer meine Antwort, wenn mich die Leute fassungslos fragten, warum ich denn Leverkusen-Anhänger sei - fassungslos nicht deshalb, weil sie das schlimm gefunden hätten (vielleicht ein bisschen, aber nicht nennenswert), sondern weil sie sonst einfach niemanden von dieser Art kannten und gar nicht wussten, dass es so etwas überhaupt gibt. Fans von Bayern, Dortmund, Schalke, vom HSV oder St. Pauli, Bremen oder Köln - ja, die trifft man zuhauf, an jeder Straßenecke. Aber Leverkusen? Warum?
Künstlerisch hochwertvolle Momente
Weil es Spaß macht. Weil Torwart Rüdiger Vollborn auf dem Mannschaftsbild im kicker-Sonderheft zur Saison 1988/1989 so verschmitzt lächelte. Weil ich den schönen Fußball liebe. Weil ich mich - vielleicht notgedrungen, aber immerhin - ganz gut identifizieren konnte mit dem Narrativ, mit dem sich Bayer Leverkusen verwob, als den Begriff "Narrativ" noch keiner kannte und brauchte: Das Hauptanliegen dieses Vereins schien im vergangenen Vierteljahrhundert darin zu bestehen, künstlerisch hochwertvolle, überwältigend schöne Spielzüge auf den Platz zu zaubern - und doch immer dann, wenn es zur Belohnung etwas zu gewinnen geben könnte - sagen wir: einen Pokal oder eine Meisterschale - kurz vorher und ganz knapp noch zu versagen.
Scheitern auf höchstem Niveau, also: Hochkultur. Aber als solche über all die Jahre auch ein bisschen anstrengend; gelegentlich dachte man eben doch, ach, sich einfach mal besinnungslos über einen Erfolg freuen zu können, ganz ohne Subtilität und Zwischentöne, das könnte doch auch ganz hübsch sein. Zugleich wusste man mit unumstößlicher Sicherheit: Das wird natürlich nie geschehen, erstens, weil das Nichtgewinnenkönnen zum Wesenskern des Vereins gehört, und zweitens, weil Bayern München.
Meistertrainer Xabi Alonso: Feinsinnige Arbeit
Und jetzt? Hat sich gegen alle Erwartungen eine Mannschaft herausgebildet, die sich einfach weigert, Spiele zu verlieren, sogar dann, wenn es in ihnen um etwas geht. Sie hat sich gebildet durch die gemeinsame Arbeit so unterschiedlicher Protagonisten wie dem Abwehrrecken Jonathan Tah, dem Taktgeber Granit Xhaka, Florian Wirtz, dem Ballzauberer, oder Victor Boniface, der Urgewalt im Strafraum - aber zuallererst gebildet durch die feinsinnige Arbeit des Meistertrainers Xabi Alonso. Er hat in einer Weise, die eigentlich auf alle Lebensbereiche anwendbar wäre, gezeigt, wie man eine Gruppe von Menschen führen kann: mit fachlichem Können, Emotionalität und zugleich auch großer Menschlichkeit. Diesem Mann ist es ganz wesentlich zu verdanken, wenn Bayer Leverkusens erste Meisterschaft auch über die eigene kleine Fangemeinde hinaus viele Menschen fröhlich macht.
Aber das sind alles bloß Worte, ungläubigem Staunen abgerungene Worte, abgerungen auch einem Gefühl großer Unbeholfenheit: Wie feiert man denn die deutsche Meisterschaft? Ich werde es üben müssen in den nächsten Tagen. "Once in a lifetime", dieses Gefühl stand gestern Abend den Zehntausenden, die im Leverkusener Stadion tanzten, sangen, lachten und weinten, in ihre Gesichter geschrieben. So etwas erlebt man nur einmal, ein einziges Mal im Leben, und öfter braucht man das auch gar nicht. Vielleicht allenfalls möglicherweise, wenn's recht ist, noch ein zweites Mal - einfach nur, um das Geübte anzuwenden. Weil es Spaß macht.