Yann Tiersens neues Doppelalbum: Rebellische Töne eines Missverstanden
Yann Tiersen hat bekannte Filmmusiken geschrieben, zum Beispiel für "Die fabelhafte Welt der Amélie". Heute lebt er zurückgezogen und gibt kaum noch Interviews. Für sein neues Doppelalbum "Rathlin From A Distance/The Liquid Hour" macht er eine Ausnahme.
"Ich bin kein Komponist", sagt Yann Tiersen. "Mein Background besteht darin, in einer Band zu spielen. Und ich mache nur alleine Musik, weil meine Mitstreiter mich versetzt haben. Ich komme auch nicht aus der Klassik oder Neo-Klassik, sondern dem Post-Punk. Ich bin beeinflusst von Einstürzende Neubauten, Neu! und dem Minimalismus eines Steve Reich." Yann Tiersen fühlt sich missverstanden. Kritiker nennen ihn "den französischen Michael Nyman" und reduzieren ihn auf "Die fabelhafte Welt der Amélie". Ein Blockbuster, der 140 Millionen Dollar eingespielt hat.
Ein weiterer Versuch, sich von "Amélie" zu lösen
Für den sensiblen Künstler ein Fluch, der nie zu enden scheint - obwohl Tiersen 14 Solo-Alben veröffentlicht hat und sich auf anderem Terrain bewegt. Das lässt den Mann aus Brest verzweifeln: "Der Film ist mir zu süß. Eine langweilige Schnulze im alten Paris - dabei bevorzuge ich das neue, multikulturelle. Was mich aber am meisten stört: Mein Werk wird komplett Sinn-entfremdet. Ich habe meinen Vater verloren, als ich sieben war. Musik wurde zur Therapie. Sie hat mit Schmerz zu tun und sie in dem Film zu hören, tut richtig weh. Doch wegen seines Erfolgs muss ich damit klarkommen, dass meine Musik als romantisch verstanden wird."
Das Doppel-Album "Rathlin From A Distance/The Liquid Hour" ist ein weiterer Versuch, sich von "Amélie" zu lösen. Mit anspruchsvollen 80 Minuten Musik. Die erste Hälfte, "Rathlin From A Distance", besteht aus minimalistischen Klavier-Stücken - die zweite Hälfte, "The Liquid Hour", aus sphärischen Klangcollagen zwischen Ambient, EBM und Industrial. "Ich wollte, dass beide Teile extrem minimal und maximal ausfallen - wie klaffende Gegensätze", erzählt der Musiker. "Für das Maximale habe ich eine Ondioline gekauft - ein elektronisches Instrument aus den 1930er-Jahren. Außerdem ein Ondes Martenot, das genauso alt ist. Das Ganze soll wie eine verrückte Marschmusikkapelle klingen."
Protestmusik gegen die Popularität der Rechtspopulisten
Die Marschmusikkapelle kommt nicht von ungefähr: Tiersen versteht "The Liquid Hour" als Protestmusik gegen die Popularität des Rassemblement National (ehemals Front Nationale). Den bekämpft er mit Kompositionen wie "Delores" - eine Hommage an die Antifaschistin Dolores Ibárruri und ihre Rede "no pasaran" zur Verteidigung der Demokratie. Die ist 2025 genauso wichtig wie 1936. "Als die Ultra-Rechten bei der letzten Wahl kurz vor dem Sieg standen, habe ich die Rede von Dolores aufgegriffen, weil ich sie so stark finde. Für mich ist Le Pen der letzte Aufstand der Dinosaurier. Sie haben Angst vor dem Asteroiden - aber Geld und Macht. Es ist wichtig, etwas dagegen zu tun, etwa mit Protesten."
Rebellische Töne von einem, der sonst schweigt. "Rathlin From A Distance/The Liquid Hour" ist das politischste Album in Tiersens Karriere. Mit "Amélie" hat es dagegen nichts zu tun. Genau das dürfte die Intention des Künstlers sein.
Rathlin from a distance / The liquid hour
- Label:
- Mute Artists
- Veröffentlichungsdatum:
- 4.4.2025
Schlagwörter zu diesem Artikel
Rock und Pop
