"Menschen, die nicht als schön gelten, haben es schwerer"
Die Aktivistin Melodie Michelberger setzt sich für ein diverses Bild von Schönheit und die Akzeptanz verschiedener Körperformen ein. Das beschreibt sie in ihrem Buch "Body Politics". Ein Gespräch.
Als Du sieben warst, gab es ein besonderes Erlebnis - welches?
Melodie Michelberger: Ich war mit meiner Mama einkaufen und habe den allerschönsten Rock gesehen, mit bunten Blumen drauf und Volants. Ich wollte diesen Rock unbedingt haben, durfte ihn aber nicht mitnehmen, weil meine Mutter damals meinte, dass er meinen dicken Hintern noch mehr betonen würde. Für mich war das ein prägender Moment: Davor war ich ein mutiges Mädchen, das durch Bäche gewatet, auf Bäume geklettert, mit dem Fahrrad über die Feldwege geflitzt ist. Und ab dem Moment schlich sich so ein Gefühl meinem Körper gegenüber ein, dass ich etwas falsch gemacht habe. Weil wer, wenn nicht ich selber, soll Schuld daran sein, dass ich diesen wunderschönen Rock nicht bekommen durfte. An diesen Moment erinnere ich mich heute noch.
Meinst Du, dieser Moment ist auch Deiner Mutter in Erinnerung geblieben? Vermutlich nicht, oder? Trägst Du ihr das nach?
Michelberger: Ich trage ihr das nicht nach, weil ich weiß, dass sie das nicht absichtlich gesagt hat. Das war einfach unachtsam. Vielleicht wollte sie mich vor Blicken bewahren, weil unsere Gesellschaft nicht besonders freundlich mit Körpern umgeht, die ein bisschen runder sind als andere. Ich muss dazu sagen: Ich war ein absolut durchschnittliches Kind. Trotzdem durfte ich diesen Rock nicht haben. Auch wenn ich ein dickes Kind gewesen wäre, wäre das natürlich auch total abwertend und gemein gewesen, mir so etwas zu sagen.
Ich behaupte mal, dass es das auch bei Männern gibt, aber vielleicht sprechen die nicht so darüber. Fehlen in diesem Bereich Vorbilder? Wie sind Deine Erfahrungen?
Michelberger: In meiner Kindheit und Jugend hatte ich tatsächlich kein einziges weibliches Vorbild in meinem Umfeld - weder meine Mutter noch meine Tanten oder Oma -, die wertschätzend oder wenigstens neutral über ihre Körper gesprochen haben. Eigentlich ging es täglich nur darum, was an den Körpern stört, was weg kann, was falsch ist, woran man ganz dringend arbeiten muss und dass man unbedingt weniger sein muss. Das hat mich meine ganze Kindheit und Jugend begleitet, dass die Frauen in meinem Umfeld eigentlich immer weniger sein wollten.
Was als schön gilt, das ist ständigem gesellschaftlichen Wandel unterworfen und im Grunde ein gesellschaftliches Konstrukt, wie man längst weiß. Bewerberinnen, die gemeinhin als schön gelten, werden auch bei schlechterer Qualifikation häufig bevorzugt. Bei Männern ist es die Körpergröße, die erwiesenermaßen Einfluss aufs Gehalt hat. Akademikerinnen spielen gutes Aussehen manchmal herunter, um als ernsthaft genug wahrgenommen zu werden. Wo muss man ansetzen bei diesen Problemen?
Michelberger: An diesen Beispielen sieht man, dass Körper politisch sind, dass sie sehr viel mehr sind als unser Äußeres und dass unser äußeres Erscheinungsbild auch den Stand in der Gesellschaft bestimmt. Menschen, die nicht als schön gelten - aus welchen Gründen auch immer -, haben es einfach schwerer. Da ist die Studienlage ganz klar. Und Menschen, die das "Pretty Privilege" haben, kommen im Leben schneller weiter, ihnen wird auch mehr zugetraut. Eine Frau sollte auch nicht zu schön sein, weil ihr dann oft ihr Können abgesprochen wird.
In New York hat es vor wenigen Tagen eine gesetzliche Regelung gegeben, dass man Menschen wegen ihres Gewichts oder ihrer Körpergröße nicht mehr diskriminieren darf. Und das in einem Land, in dem es vergleichsweise viele Übergewichtige gibt. Bräuchte man so ein Gesetz auch hierzulande?
Michelberger: Ja, wir bräuchten dringend so ein Gesetz. Gerade unser Gewicht ist in Deutschland immer noch nicht Teil des Gleichstellungsgesetzes. Es gibt in Deutschland eine Initiative, die schon länger dafür kämpft, dass Gewichtsdiskriminierung aufgenommen wird. Ich habe das Gefühl, dass dadurch, dass viele Leute meinen, dass man an seinem Gewicht selber Schuld sei und man sich einfach noch nicht richtig angestrengt habe, man deshalb Menschen schikanieren, abwerten oder ausgrenzen kann. Deshalb finde ich es ganz wichtig, dass wir auch so ein Gesetz bekommen.
Du fragst in Deinem Buch "Body Politics", wem es eigentlich nützt, dass unzählige Frauen sich nicht hübsch genug fühlen. Wie lautet Deine Antwort?
Michelberger: Es gibt sehr viel daran zu verdienen, wenn Millionen von Mädchen und Frauen sich in ihren Körpern unwohl fühlen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie ganz viel leisten müssen, konsumieren müssen, dafür tun müssen, dass ihre Körper so aussehen wie dieses Ideal. Davon profitieren ganz viele unterschiedliche Industrien: die Schönheitsindustrie, die Abnehmindustrie, die Modeindustrie, die Wellnessindustrie - die Liste ist sehr lang. Ich glaube, viele sind sich gar nicht dessen bewusst, in was für einem System wir leben und dass es sehr viele Profiteure davon gibt, dass viele das Gefühl haben, dass das Aussehen das Wichtigste an ihnen ist und dass sie diesem Schönheitsideal unbedingt entsprechen müssen.
Die feministische Autorin Laurie Penny schreibt, dass wenn alle Frauen der Welt morgen aufwachen und sich wirklich positiv und mächtig in ihren Körpern fühlen würden, die Weltwirtschaft über Nacht praktisch zusammenbrechen würde. Ist es in diesem Sinne auch antikapitalistisch, ein gutes Verhältnis zum eigenen Körper zu haben?
Michelberger: Ich liebe dieses Zitat, weil es zeigt, wie mächtig Geld ist und wie mächtig dieses Schönheitsideal ist, das uns allen die ganze Zeit vorgaukelt, dass wir so, wie wir von Natur aus sind, falsch sind. Natürlich ist es antikapitalistisch, wenn man sagt: Ich mache das nicht mit, ich kaufe die Bauchweg-Hose nicht, ich lade die App nicht runter, die Schritte oder Kalorien zählt. Es ist aber wahnsinnig schwer, sich dagegen zu wehren - mir fällt das auch total schwer. Ich kaufe mir trotzdem irgendwelche Antifaltencremes, die teuer sind, und schmiere sie ins Gesicht, obwohl ich weiß, woher dieses Gefühl kommt, dass Falten ab einem bestimmten Alter unbedingt vermieden werden müssen.
Wenn Du sagst, dass Du mit Deinem Körper im Reinen bist, heißt das aber auch, dass Dir Dein Körper nach wie vor nicht egal ist, oder?
Michelberger: Ich sage gar nicht, dass ich mit meinem Körper im Reinen bin. Ich versuche mich an einer Freundschaft mit meinem Körper. Das ist nach so vielen Jahrzehnten ein wahnsinnig großer Unterschied für mich, weil ich viele Jahre lang eine Essstörung hatte. Ich war als Teenagerin magersüchtig, aber heute bin ich liebenswürdig mit mir selber. Auch wenn ich nicht alles an mir toll finde oder mit Kusshand am Spiegel vorbeilaufe, hasse ich mich nicht mehr, wenn ich in einen Spiegel schaue. Und egal, was ich da sehe, bin ich trotzdem freundlich zu mir und gucke, dass es mir an dem Tag gut geht.
Für Dich ist das ein ganz großes Lebensthema. Würdest Du Dir wünschen, dass es eines Tages vielleicht gar keins mehr sein muss?
Michelberger: Das würde ich mir natürlich sehr wünschen. Aber ich beschäftige mich täglich mit Körperakzeptanz, mit Bodyshaming, mit Essstörungen, und weiß, dass die Zahlen in den vergangenen Jahren extrem zugenommen haben. Deshalb wird dieses Thema mich und uns leider noch ein bisschen länger begleiten.
Das Interview führte Philipp Cavert.