Cover des Sachbuches "Vom Hintern" von Heather Radke © Piper Verlag
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Cover des Sachbuches "Vom Hintern" von Heather Radke © Piper Verlag
AUDIO: Po, Pop und Politik: Sachbuch über die Geschichte des Hinterns (4 Min)

Po, Pop und Politik: Sachbuch über die Geschichte des Hinterns

Stand: 05.06.2023 12:16 Uhr

Er geht uns auf Grundeis oder die Sonne scheint heraus, wir kneifen ihn zusammen oder sitzen ihn platt, wir kriegen ihn nicht hoch, aber dafür voll: den Hintern. Ein Körperteil, der die US-amerikanische Journalistin und Autorin Heather Radke viel beschäftigt hat. Aus ihren vormals rein privaten Gedanken ist ein Buch entstanden: "Vom Hintern. Die Geschichte einer Rundung". 

von Alexandra Friedrich

Es ist ein Blick zurück - im doppelten Sinne. Heather Radke inspiziert unsere Kehrseite. Aus kulturhistorischer Perspektive. Sie führt uns zu Sarah Baartman, die im 19. Jahrhundert unfreiwillige Berühmtheit erlangt unter dem Namen "Hottentotten-Venus". Europäische Kolonialherren verschleppen sie aus ihrer Heimat im südlichen Afrika nach Europa und präsentieren ihr großes Gesäß  in sogenannten "Freakshows". Der Mythos der hypersexuellen, schwarzen Frau entsteht und er - das zeigt Heather Radke - dauert bis heute fort. Immer wieder berührt Radke virulente Debatten unserer Gegenwart.  

Der "Twerk": Entstehung und Bedeutung

Paradebeispiel dafür ist der "Twerk“. Eine Ikone des po-zentrierten Tanzstils ist Big Freedia. Schwuler Rapper und Dragqueen aus New Orleans. Er twerkt seit den 1990er-Jahren, erklärt in seiner TV-Sendung "Twerkshops" und in Tutorials, wie das geht. 

Big Freedia klärt aber auch über die historischen und politischen Hintergründe des "Twerk" auf. Seine Ursprünge hat der Tanz im New Orleans des 18. Jahrhunderts. Wo Schwarze und Indige sich "am heiligen Sonntag" öffentlich versammelten und mit den offensiv-sinnlichen Bewegungen ihrer Pos zu Musik Widerstand ausdrückten. Widerstand gegenüber den weißen, christlichen Unterdrückern und der von ihnen repräsentierten Kultur.

Miley Cyrus beschert "Twerk" Eintrag im Oxford Dictionary

Big Freedia hat maßgeblich zur Verbreitung des "Twerk" beigetragen. Einen Eintrag im Oxford Dictionary hat der Tanzstil allerdings erst durch den Popstar Miley Cyrus bekommen. Fast zehn Jahre liegt es zurück, dass die damalige Heldin aus der Disney-Serie "Hannah Montana" ihr braves Schulmädchen-Image loswerden will. Bei den Video Movie Awards des Musiksenders MTV tritt die zierliche, weiße Sängerin fast nackt auf - neben vier mehrgewichtigen schwarzen Tänzerinnen. Und alle "twerken" - die einen mehr, die andere weniger gekonnt.  

Sie beugt sich vor und wackelt mit dem Hintern eher wie ein Haustier, das sich das Badewasser abschüttelt, als eine geübte Twerkerin, stolziert herum und reibt sich mehrmals den Finger in den Schritt. (…) Unbeholfen und staksig scheint sie der Welt zeigen zu wollen: Ich bin nicht mehr Hannah Montana. Leseprobe

"Karikaturhaftes Beispiel" für kulturelle Aneignung

Ein legendärer Bühnenauftritt, für den Miley Cyrus aber auch viel Kritik erntet, unter anderem an der unreflektierten Übernahme der widerständigen Praxis "Twerk". Für Heather Radke ist Miley Cyrus ein schon beinahe "karikaturhaftes Beispiel" für kulturelle Aneignung

Sie schlachtete eine Tanzform aus, die seit Langem in den von Armut gekennzeichneten Schwarzen Communitys praktiziert worden war, und zapfte gleichzeitig das Stereotyp der hypersexuellen Schwarzen Frau an – und das alles, um der Welt zu beweisen, dass sie kein Kind mehr war. (…) Cyrus hat Riesensummen Geld mit ihren Auftritten verdient, ohne je die Schwarzen und queeren Ursprünge des Twerk in der Öffentlichkeit zu erwähnen. Leseprobe

Die Selbstermächtigung der einen geht auf Kosten anderer, oft derer, die sich in einer "schwächeren" Position befinden. Aber es gibt auch Gegenbewegungen und Rückeroberungen. Etwa wenn die britisch-nigerianische Tänzerin und Aktivistin Kelechi Okafor mittels "Twerk" Missbrauchserfahrungen verarbeitet, die sie jahrzehntelang verschwiegen hat:

 ... nun aber betrachtet sie Twerken als Methode, mit diesem Schweigen zu brechen, um wieder Herrin über den eigenen Körper zu werden und mit ihm in Einklang zu kommen. 'Mithilfe des Tanzens erobere ich mir meinen Körper zurück', sagt sie. 'Und genau das kann ich den Leuten geben, ganz offen und verletzlich.' Leseprobe

Methode sich frei zu tanzen

Als eine der beliebtesten Twerk-Trainerinnen Großbritanniens hilft sie anderen Menschen, sich frei zu tanzen. "Tanzen ist für mich eine Form des Heilens", sagt sie. "Deshalb kommt es wahrscheinlich so gut an bei vielen Frauen: Ich zeige ihnen, wie sie es als Mittel der Selbstheilung nutzen können."  

Heather Radke erzählt anschaulich und unterhaltsam, aber nimmt den Hintern ernst. Den Teil unserer Körper, der sonst oft zur Belustigung oder Sexualisierung, zur Erniedrigung oder Beleidigung Anderer herhalten muss. Eine Kulturgeschichte von Po, Pop, Politik und von Power: Der Hintern hat die Kraft, zu ermächtigen und ist für Heather Radke ein Symbol für den widerständigen Körper.

Vom Hintern. Die Geschichte einer Rundung

von Heather Radke, übersetzt von Viola Krauß
Seitenzahl:
352 Seiten
Genre:
Sachbuch
Verlag:
Piper Verlag
Veröffentlichungsdatum:
01.06.2023
Bestellnummer:
EAN 978-3-492-06438-5
Preis:
20,-- €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 05.06.2023 | 16:50 Uhr