50 Jahre Keith Jarretts "Köln Concert": "Ein musikalischer Bewusstseinsstrom"
1975 fand in der Kölner Oper das legendäre Konzert von Jazz-Musiker Keith Jarrett statt. Der Musikwissenschaftler Michael Schmidt war damals dabei. Im Interview erzählt er, wie er das Konzert wahrgenommen hat.
Herr Schmidt, wie kamen Sie damals zum Konzert von Keith Jarrett? War das eher zufällig oder sind Sie damals als großer Fan hingepilgert?
Michael Schmidt: Nein, ich hatte damals als 17-jähriger Schüler noch nie was von Jarrett gehört, und mein Lehrer am Kölner Konservatorium, wo ich Klavier lernte, hat mich da mitgenommen. Ich war damals nicht nur mit Bach und Beethoven beschäftigt, sondern interessierte mich auch für Oscar Peterson oder Herbie Hancock, also für Jazz, aber auch für die Beatles und Pink Floyd. Er hat gesagt: "So etwas hast Du noch nicht gehört!" Und er hat Recht gehabt: Tatsächlich wurde das eines der prägendsten Konzerterlebnisse in dieser Zeit.
Beschreiben Sie mal die Atmosphäre. Wie war das damals in der Kölner Oper?
Schmidt: Das war seltsam. Zunächst mal kam er nicht auf die Bühne. Ich habe hinterher gehört, dass es da Schwierigkeiten gab, dass er mit dem Flügel nicht einverstanden war. Die Kölner Oper war knallvoll, und dann kam er rein, schaute nicht ins Publikum, ging direkt zum Klavier und fing erst mal nicht an. Wie das so ist: Mal hustete einer, mal räusperte sich jemand - und er hat wirklich gewartet, bis es total still war. Und dann ging es los.
Und dann geriet man in so einen gewissen Flow - oder wie kann man sich das vorstellen?
Schmidt: Ja, absolut. Er kam ganz langsam rein in die Musik, und es bewegte sich erst mal zwischen einem Dur-Akkord und einem Moll-Akkord mit einfachen Motiven. "Flow" finde ich ein sehr gutes Wort. Ich habe später gedacht, dass das so ein musikalischer Bewusstseinsstrom gewesen war. Es sprudelte aus ihm heraus, in den verschiedensten Stilen, im Sinne einer Entfaltung von Motiven und Variationen, aber auch wilden harmonischen Erkundungen. Es blieb nicht so einfach, aber er kehrte immer wieder zu einer meditativen Einfachheit zurück, und das war endlos. Das war eigentlich so eine Auflösung von Zeit und Raum. Ich hatte auch das Gefühl, irgendwann das Zeitgefühl zu verlieren. Das strömte und strömte wie aus einem Musikmedium heraus.
Es gab einige Widrigkeiten bei diesem Konzert: Erstmal war der gute Bösendorfer Konzertflügel nicht aufzutreiben, dann wurde ein alter, ramponierter Stutzflügel auf die Bühne gestellt, und Keith Jarrett muss unter extremen Rückenschmerzen gelitten haben, weil er den ganzen Tag in einem klapprigen Renault 4 unterwegs war. Hat man davon etwas mitbekommen, dass er sehr angestrengt war?
Schmidt: Während er spielte, stand er auf einmal auf und spielte im Stehen weiter. Aber das war trotzdem toll. Damals wusste ich natürlich auch nicht, dass er Schmerzen hatte. Er hat sich manchmal auch so bewegt, und ich hatte das Gefühl, dass das vielleicht so eine tänzerische Bewegung zur Musik war, aber es war wohl beides - es war auch der Ausgleich für die Rückenschmerzen.
Das hat trotzdem zum Mythos beigetragen, oder?
Schmidt: Genau. Ich habe das auch noch nicht gesehen, weder in klassischen Konzerten noch in Jazzkonzerten, dass der Pianist auf einmal aufsteht und sich stehend an den Tasten bewegt - das war für mich völlig neu.
Das Köln-Konzert lebte von der Improvisation. Warum fasziniert das heute noch so? Es ist ja nach wie vor eine sehr populäre Einspielung.
Schmidt: Ja, es ist populär, und das ist von manchen auch durchaus kritisch gesehen worden. Wenn man nach dem Konzert mit Leuten sprach, fanden das manche kitschig, nicht experimentell, avanciert genug. Aber es hat eine ganz andere Qualität gehabt. Diese absolute Freiheit, einfach die Musik aus sich herausströmen zu lassen, ohne darauf zu achten, dass man viele Akkorde in Dur hat oder dass es manchmal einfach klingt. Diese Freiheit - ich habe selber damals schon auch Jazz-Improvisation gemacht - hat mich für mein eigenes Spiel inspiriert.
Erleben Sie diese Freiheit im Konzertbetrieb heute auch noch?
Schmidt: Weniger. Das läuft immer noch nach bestimmten Ritualen ab, vor allen Dingen im Klassikbereich, aber auch im Jazz sind es bestimmte Konzertsituationen. Hier und da wird schon versucht, das aufzubrechen. Im Vergleich zu dem, was ich vorher als Konzertsituation kannte, war das damals etwas völlig Neues und Freies, wo ich mit offenem Mund gesessen habe.
Das Gespräch führte Eva Schramm.