Immer mehr Kinder und Jugendliche abhängig von Computerspielen
Hohe Stressvulnerabilität, starke Impulsivität, Sozialphobie - das sind einige der Folgen, wenn Kinder und Jugendliche zu häufig am Computer zocken - erklärt der Psychiater Rainer Thomasius im Interview.
Einer Studie der Krankenkasse DAK und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zufolge sind rund 1,6 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland akut gefährdet, mediensüchtig zu werden, über 600.000 sind bereits abhängig.
Herr Thomasius, Sie haben das Medienverhalten von Zehn- bis 21-Jährigen aus rund 1.200 Familien untersucht - mit welchem Ergebnis?
Rainer Thomasius: Wir sehen in den Studien, dass die Nutzungszeiten für die Videospiele bei den Zehn- bis 17-Jährigen vor allen Dingen seit der Corona-Pandemie kontinuierlich angestiegen sind. Die durchschnittliche Nutzungsdauer dieser Altersgruppe liegt an den Schultagen bei etwa Eindreiviertelstunden und an den Wochenenden bei drei Stunden. Ein Befund, der aber wirklich erschreckt, ist, dass die pathologischen Nutzungsmuster, wo das Spielen Krankheitswert annimmt. Im Verlauf der Corona-Pandemie angestiegen sind von zunächst 2,7 Prozent auf zuletzt 4,3 Prozent in der Gruppe der zehn- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen. Hochgerechnet auf diese altersgleiche Bevölkerung entspricht das 270.000 Kindern und Jugendlichen, die abhängig sind von Computerspielen.
Es leuchtet ein, dass die Corona-Pandemie dem krankhaften Spielen Vorschub geleistet hat. Das ist ja auch etwas, was man prima von Zuhause tun kann. Selbst Erwachsene im Homeoffice müssen nicht mal den Bildschirm dafür wechseln, oder?
Thomasius: Ja, wir können aber nicht die Corona-Pandemie dafür allein verantwortlich machen, dass das Ausmaß dieser Computerspiel-Störung so stark angestiegen ist, sondern ein ganzes Ursachenbündel muss da angeschaut werden. Es geht um sehr personennahe Einflussfaktoren. Wir sehen, dass die Jungen überzufällig häufig betroffen sind, auch die jüngeren Jungen. Sie haben Probleme, ihre vor allen Dingen unguten Gefühle zu regulieren, sie weisen eine hohe Stressvulnerabilität auf, eine starke Impulsivität. Sie fallen zu sehr frühen Zeitpunkten, also bei der Einschulung, durch Sozialphobie auf und finden keinen rechten Zugang zu Gleichaltrigen. Wenn dann auch noch hinzu kommt, dass bei den Eltern eine geringe digitale Medienkompetenz vorliegt, dann ist die Wahrscheinlichkeit erhöht.
Als dritter Faktor kommt noch etwas hinzu: Die Computerspielindustrie baut in die Computerspiele Mechanismen ein, die die Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange in den Computerspielen halten, um letztlich Werbestrategien dort zu offerieren. Es wird mit sozialen Verpflichtungsgefühlen gearbeitet, mit Konkurrenzdruck durch Ratings. Unerwartete Belohnungen machen diese Spiele sehr attraktiv, es gibt Bestrafungen für Nichtspielen, Personalisierung und Pay-to-win-Attribuierung, also dass manche Siege in den Spielen nur durch Geldeinsatz zu erringen sind. Ein großes Problem sind auch diese sogenannten Loot-Boxen, glücksspielähnliche Elemente, von denen wir befürchten, dass Jugendliche auch an das Glücksspiel herangeführt werden.
Man kann sich bei solchen Spielen als Figur in wilde Fantasiewelten flüchten. Man verkörpert Charaktere, die man im echten Leben gar nicht sein könnte, kann sich verwandeln. Bei Spielen wie "World of Warcraft" und Co. besteht die Faszination darin, dass man mit anderen Menschen auch interagiert. Was sind denn die ersten Anzeichen? Wie merke ich zum Beispiel, dass mein Kind von so einem Computerspiel viel zu sehr eingenommen ist?
Thomasius: Die ersten Anzeichen bestehen darin, dass die Nutzungszeiten sich erhöhen. Aber nicht jede Erhöhung der Nutzungszeiten hat auch gleich eine pathologische Bedeutung. Entscheidend ist, was in den anderen Lebensbereichen des Kindes passiert. Bei den Jugendlichen, die zu uns in Behandlung kommen, fällt auf, dass zum Zeitpunkt der exzessiven Nutzung die Schulleistungen den Berg runtergehen und dass andere Freizeitaktivitäten immer mehr an Bedeutung verlieren. Dass sie aber auch ihren Freundeskreis sträflich vernachlässigen, wenn es um Realkontakte geht. Das gesamte Tun fokussiert sich immer mehr auf die Nutzung von Computerspielen bis dahingehend, dass am Ende dieser Spirale Nutzungszeiten von acht, zehn oder zwölf Stunden bei den Jugendlichen vorliegen, bis in die Nacht hinein gespielt wird, am Morgen die Jugendlichen nicht mehr aus dem Bett kommen mögen und schließlich auch Schulabsentismus auftritt.
Kann man überhaupt Skills aus Computer und Videospielen ins echte Leben sinnvoll transferieren? Oder ist das immer nur eine einseitige Geschichte?
Thomasius: Ja, ich denke schon, dass Jugendliche durchaus auch profitieren können von diesen Computerspielen. Deshalb dürfen wir sie nicht verteufeln. Wir als Therapeuten sehen immer die Fälle, wo es dann schiefgeht. Aber durchaus kann in diesen Spielen Medienkompetenz erworben werden und die Vernetzung mit anderen befördert werden. Die Jugendlichen erhalten Bestätigung und Anerkennung. Bei internationalen Gilden kann sogar englischer Sprachgebrauch erworben werden. Es können soziale Fertigkeiten trainiert werden, auch kognitive Fähigkeiten. Letztlich bringt es auch Spaß, in Fantasiewelten abtauchen zu können.
Kindern das Gaming zu verbieten ist heute kaum mehr möglich und wahrscheinlich auch nicht zielführend. Was, wenn aber jemand wirklich süchtig ist? Wie kommt man da wieder raus? Wie können Betroffene unterstützt werden?
Thomasius: Wenn jemand schon süchtig ist, dann ist er am Ende der Spirale angekommen, und sämtliches Handeln und Tun fokussiert sich nur noch auf diese Computerspielwelt. Da schaffen es Eltern in aller Regel auch nicht mehr, ohne Hilfe zurechtzukommen. Die Eltern beschreiben uns in den Momenten bei Begrenzungsversuchen heftigste Konflikte mit den eigenen Kindern. Da sollten Eltern professionelle Hilfe suchen bei Jugendberatungs-, Familienberatungsstellen oder Fachambulanzen. Denn zu diesem Zeitpunkt der Suchtentwicklung müssen wir schon genau schauen, welche Problemlagen bei dem Jugendlichen, aber auch innerhalb der Familie stehen, und müssen dann mit familien- und psychotherapeutischen Ansätzen mit dem Jugendlichen und seiner Familie umgehen, um den Jugendlichen wieder an einen regulierten Internetgebrauch heranzuführen.
Spielen Sie selbst auch? Man muss ja seine Feinde zu einem gewissen Grad studieren, oder?
Thomasius: Ich kenne die Spiele aus den Schilderungen unserer Jugendlichen - ich selber bin kein großer Spiele-Fan. Aber Umgang mit Therapeuten und Umgang mit Wissenschaft ist ohne soziale Netzwerke und ohne Computer undenkbar. Insofern liegen auch meine Nutzungszeiten viel zu hoch.
Das Gespräch führte Philipp Cavert.