Gott ist nicht-binär: Theater spielen mit Geschlechtsidentitäten
Fragen nach Geschlechtsidentität werden seit Jahren immer häufiger und kontroverser geführt. In der Kunst ist das Spiel mit der geschlechtlichen Identität seit Jahrhunderten etabliert. Wie greifen es die Theater im Norden aktuell auf?
Gott ist nicht-binär. Zumindest an der Staatsoper Hannover. In der Inszenierung "Mefistofele" von Arrigo Boito übernimmt mit Heinrich Horwitz eine nicht-binäre Person die zur Handlung hinzu erfundene Figur Gottes. Regisseurin Elisabeth Stöppler möchte damit das duale System hinterfragen: Mann und Frau, Gott und Teufel, gut und böse. Das Spiel mit Geschlecht und Gender gehört in Theater und Oper seit jeher dazu. Inwiefern befassen sich die Häuser im Norden aktuell mit der Debatte?
"Eine wunderbare Chance für alle!"
Für Sonja Anders, Intendantin am Schauspiel Hannover, sollte ein geschlechtersensibler Umgang mit Menschen und Stoffen selbstverständlich sein: "Unabhängig davon, wo sich einzelne Künstler:innen selbst im Spektrum der Geschlechter verorten, spielen bei uns am Schauspiel Hannover weiblich gelesene Personen immer wieder Männerrollen oder umgekehrt." So stehe Amelle Schwerck zum Beispiel aktuell als "Peer Gynt" auf der Bühne und Stella Hilb als "Richard III." Solche klassischen Männerfiguren erfahren laut Anders neue Lesarten, wenn sie von weiblich gelesenen Personen gespielt werden. Trotzdem müsse das Geschlecht der Darstellenden nicht immer das zentrale Thema der Inszenierung sein. "Auf dem Theater kann das binäre Geschlechtersystem bespielt, umspielt und gekontert werden." Anders bewertet das als eine wunderbare Chance für alle!
Schauspiel Hannover: Bemerkenswert diverses Ensemble
Dabei ist festzuhalten, dass Anders, die 2025 die Nachfolge von Joachim Lux am Thalia Theater in Hamburg antreten wird, bereits auf ein sehr diverses Ensemble zurückgreifen kann. Nicht nur bringen viele der Schauspielerinnen und Schauspieler unterschiedliche kulturelle Hintergründe mit - das Geschlechterverhältnis zwischen Männern und Frauen ist ausgeglichen. Eine Seltenheit: denn im klassischen Theaterkanon gibt es viel mehr Rollen für Männer.
Künstlerische Qualität steht bei der Zusammenarbeit im Vordergrund
Das Theater Lübeck betont, dass bei der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen stets die künstlerische Qualität und das gute Verhältnis in der Zusammenarbeit und nicht die geschlechtliche Identität im Vordergrund stehe. Das Act-Out-Manifest hatte deutlich gemacht, dass das nicht überall in der Kulturbranche Standard ist - teilweise soll Schauspieler:innen dazu geraten worden sein, ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität zu verheimlichen, um bei Rollenangeboten nicht diskriminiert zu werden. Darüber hinaus setze sich das Theater Lübeck "selbstredend" mit Geschlechterfragen in den Projekten auf der Bühne auseinander, heißt es auf Nachfrage von NDR Kultur.
Theater Lübeck: Junge Menschen entwickeln Stück zu Gender-Fragen
Aktuell wurde etwa die Stückentwicklung "GENDER!" wieder ins Programm aufgenommen. Bei dem Projekt hatten an die 20 junge Menschen ihre Erfahrungen einfließen lassen und viele Fragen aufgeworfen: Brauchen wir Gender-Kategorien? Wie sehen Sexismus und Diskriminierung im Alltag aus? Was hilft? Was sorgt für mehr Respekt und Empathie - gendersensible Sprache womöglich? Für das Theater Lübeck ist die Oper seit ihrem Beginn das künstlerische Medium non-binärer Geschlechtsidentität überhaupt, was sich bereits aus der Gesangskultur der Kastraten ergeben habe. Geschlechtertausch, oft in Form weiblicher "Hosenrollen", seien in Opern, insbesondere den Werken von Mozart, tatsächlich omnipräsent.
Aktuell etwa auch im Spielplan bei "Die Hochzeit des Figaro" zu erleben, dort wird die Rolle des Cherubino, dem Pagen des Grafen, von einer Frau gesungen. Gegenwärtig seien Menschen, die sich selber als non-binär begreifen, unter professionellen Gesangssolist:innen allerdings noch äußerst selten, so die Wahrnehmung des Hauses. Das könne sich möglicherweise in absehbarer Zukunft ändern.
Trend: Klassische Rollen unabhängig vom Geschlecht besetzt
Auch am Staatstheater Braunschweig seien derzeit zwar noch keine non-binären Spieler:innen im Ensemble - doch es gebe non-binäre Künstler:innen am Haus. Queere Themen tauchen regelmäßig und in verschiedensten Variationen im Programm auf. Besonders gelobt wurde in den vergangenen Jahren etwa die Bühnenfassung des Romans "Die Mitte der Welt". Eine Geschichte über das Erwachsenwerden, die gängigen Probleme, die mit der Pubertät einhergehen, und eine schwule Liebe. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass auch im Ensemble das Bedürfnis besteht, solche queeren Geschichten zu erzählen.
Das Oldenburgische Staatstheater beobachtet, dass sich die Auseinandersetzung mit Geschlecht und Identität immer mehr zu Thema entwickle, künstlerisch sich allerdings noch nicht so stark niederschlage. Doch auch dort zeige sich der Trend, dass immer mehr klassische Rollen unabhängig vom Geschlecht besetzt werden. Vom Ernst-Deutsch-Theater heißt es, das Thema sei bislang von Ensemblemitgliedern noch nicht angesprochen worden, gleichwohl gebe es Mitarbeitende in unterschiedlichen Bereichen des Theaters, die sich als non-binär identifizieren. Auch dort gibt es den Trend, klassische Männer- oder Frauenrollen bei der Besetzung in Frage zu stellen und stereotype Darstellungen zu vermeiden.
Göttingen: Mit und nicht über queere Menschen sprechen
Auch das Deutsche Theater Göttingen wird sich in dieser Spielzeit mit queeren Menschen und ihren Erfahrungen auseinandersetzen. Sie fühlten sich oftmals ausgeschlossen, benachteiligt, allzu oft werde außerdem nur über sie, aber nicht mit ihnen gesprochen, finden Regisseur und Sozialarbeiter Johannes Rieder und Autor und Regisseur Philipp Löhle. Das wollen sie mit ihrem Stück "Queerio" ändern, das im Frühjahr am Deutschen Theater in Göttingen Premiere feiert - nach Gesprächen mit Menschen aus der LGBTQIA+-Community.
Festival für queere Kunst auf Kampnagel
Auf Austausch setzt auch die "Queer B-Cademy". Sie fand im Frühjahr bereits zum sechstes Mal auf Kampnagel in Hamburg statt. Dabei sollen Besucherinnen und Besucher eine "umfassende Erfahrung der queeren Zusammenkunft" machen können. Sowohl im Gespräch mit Künstlerinnen und Künstlern als auch durch Installationen, Perfomances und Workshops. Im Fokus: queere Utopien, Solidarität und Einzigartigkeit. Es soll nicht nur aufgezeigt werden, welches Potenzial Queerness für die gesamte Gesellschaft habe, sondern es sollen vor allem auch Berührungsängste und Vorurteile abgebaut werden. Davon, so lassen zahlreiche aktuelle Debatten schließen, gibt es noch jede Menge.