NachGedacht: Die fragile Gesellschaft in Frankreich
Die brodelnden Konflikte in der französischen Gesellschaft brechen momentan wieder offen aus. Wie ist eine Gesellschaft dauerhaft zu beruhigen, die ein schweres Erbe trägt, fragt sich Claudia Christophersen.
Studien und Umfragen können aufschlussreich sein oder gewaltig danebenliegen. Eine neue Allensbach-Untersuchung hat sich mit dem großen Thema Zuversicht beschäftigt. Aus Anlass des 75-jährigen Bestehens des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg hatte man hier viele Fragen zur bilateralen Zusammenarbeit.
Während die Deutschen in der ihnen eigenen Art eher miesepeterig, zweifelnd in die Zukunft schauen, sich fragen, ob ihr Land wohl weiterhin wirtschaftlich unangefochtener Player im internationalen Wettbewerb bleiben kann, sind die französischen Nachbarn laut der Untersuchung zuversichtlich. Frankreich ist digital fit, bereit für Transformationspläne und insgesamt mit einer gelasseneren Mentalität ausgestattet.
Mit Zuversicht ins Chaos
Fern von theoretischen Umfragen die Bilder vor wenigen Tagen: Ausschreitungen, Unruhen auf den Straßen von Paris, Lyon oder Marseille. Angezündete Autos, geplünderte Geschäfte, zornige und wütende Gesichter: Wie fing das alles an? Die Geschichte ist ungut - egal, wie man sie dreht und wendet. Da rast ein Auto durch einen Vorort von Paris. Die Polizei schießt, der 17-jährige Fahrer stirbt. Die Gewalt eskaliert: nicht nur in Paris, im ganzen Land.
Bürgermeister werden bedroht, fürchten um ihr Leben und das ihrer Familien. Macron, zum Staatsbesuch in Deutschland erwartet, sagt seine Reise ab. Der Ernst der Lage - er ist angekommen. Inzwischen haben sich die Unruhen weitgehend beruhig - Gott sei Dank. Die Nachwehen aber sind spürbar, die Schäden sichtbar, die Politik bilanziert, betreibt Ursachenforschung. Da können Umfragen noch so von Zuversicht schwärmen. Junge Menschen, die in sogenannten Problembezirken leben, fühlen sich trotzdem abgehängt und ausgeschlossen. Ihre Zukunft sehen sie alles andere als zuversichtlich, geschweige denn positiv.
Soziale Herkunft in Frankreich prägt das Individuum
Es sind die "feinen Unterschiede" einer Gesellschaft, denen der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu schon in seinem gleichnamigen Hauptwerk Ende der 1970er-Jahre auf den Grund gegangenen ist. Während seines Militärdienstes in Algerien bekam er ein Gefühl für das Land, für die Sprache, die Kultur, die Menschen und ihren Alltag. Immer wieder zog es ihn auch später für seine Forschungen dorthin. Nicht zuletzt, weil er verstehen wollte, wie die Probleme der Einwanderer in Frankreich, Kolonialismus inklusive, zu analysieren sind.
Bourdieu entwickelt seine Sozialkritik und Theorie über Stil und Geschmack - mit bitterem, ernüchterndem Ergebnis. Allen Hoffnungen auf einen sogenannten philosophisch erdachten Neuanfang schiebt er einen Riegel vor. Individualität zeige sich in eigenen Vorlieben und Verhalten. Welche Musik man zum Beispiel hört, wie man sich kleidet, sich in seinem Zuhause einrichtet, wie man sich gibt, was man isst - alles geprägt durch soziale Herkunft. Ein festgeschnürtes Korsett, das sich nur schwer, wenn überhaupt, aufbrechen und abschütteln lässt.
Illusion einer sozial-gerechten Gesellschaft
Pierre Bourdieu sah die starren Beharrungskräfte, die sich erst recht auswirkten in Vorstädten, in Trabantenbauten, in den Banlieue. Sie seien eine Illusion sozial-gerechter Gesellschaft und würden zum Nährboden für Wut, Zorn, Gewalt. Wie Recht er hatte.
In diesen Tagen meldete sich eine Aktivistin zu Wort: Latifa Ibn Ziaten. "Mutter Courage" der Banlieue wird sie genannt. Sie sprach zu den Eltern der Randalierer: "Bringen Sie Ihre Kinder zur Vernunft: Ihr habt Besseres als Unruhen verdient!". Ihre Worte wurden wohl gehört, die eigentlichen Konflikte werden sie nicht lösen.