Welche Rolle hat die Literaturkritik?
Welche Rolle hat die Literaturkritik? Nach welchen Kriterien sollte sie ausgeübt werden? Das ist das Schwerpunktthema bei der in Darmstadt beginnenden Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. "Daumen hoch, Daumen runter", ist eine erste Veranstaltung überschrieben. Ernst Osterkamp ist seit einem Jahr Präsident der Akademie.
Herr Osterkamp, "Daumen hoch, Daumen runter" - das klingt ziemlich brutal. So wird Kritik ja auch oft erfahren von den Betroffenen. Warum jetzt dieses Schwerpunktthema?
Ernst Osterkamp: Ich denke, dass sich die Literaturkritik zurzeit in einem umfassenden Strukturwandel befindet. Wir stehen vor der Situation, dass die klassischen Printmedien - und die sind für die meisten Leser das zentrale Medium der Literaturkritik gewesen - unter dem Druck schwindender Feuilleton-Kapazitäten stehen. Die Auflagen verringern sich, der Platz für Literaturkritik schwindet, und das kann unter Umständen dazu führen, dass der Umfang von Kritiken geringer wird, dass sich der Grad der Differenziertheit, der ästhetischen Argumentation absenkt, oder dass Redakteure sich sogar dazu entscheiden, weniger ästhetisch komplizierte Werke zur Besprechung zu nehmen, sondern eher gängige Romane. Das ist die eine Seite des Problems.
Auf der anderen Seite weitet sich das Spektrum der literaturkritischen Medien erheblich aus. Es gibt neben den klassischen Printmedien das Radio, das Fernsehen, vor allen Dingen aber die digitalen Medien. Und die digitalen Medien zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Platz- und Raumprobleme des klassischen Feuilletons nicht kennen. Da kann eine Rezension so lang sein, wie es dem Autor gerade in den Sinn kommt. Auf der anderen Seite unterliegt das digitale Medium in der Regel keinen redaktionellen Vorgaben, es findet also keine Qualitätsprüfung grundsätzlicher Art statt.
Was bedeutet das eigentlich für den Leser? Kann unter all diesen Bedingungen die Literaturkritik eigentlich noch ihre Orientierungsfunktion gegenüber dem Leser einnehmen? Das sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigen wollen.
Befürchten Sie, angesichts der eben von Ihnen skizzierten Situation, einen dramatischen Absturz der ernsthaften Literaturkritik in die Bedeutungslosigkeit?
Osterkamp: So weit würde ich auf keinen Fall gehen. Ich denke, dass sich die klassischen Printmedien, aber auch der Rundfunk, noch ihres klassischen Auftrags bewusst sind, auf der Grundlage begründeter und vom Leser und Hörer nachvollziehbarer Kriterien den Leser innerhalb des fast uferlosen literarischen Angebots mit solchen Hinweisen auszustatten, dass ihm eine klare Entscheidung möglich ist, ob er ein bestimmtes Buch lesen will oder nicht. Ich würde das also nicht so skeptisch sehen. Aber es passiert mir als einen professionalisierten Leser immer häufiger, dass, wenn ich Literaturbeilagen durchblättere, ich mich am Ende frage: Was weiß ich jetzt eigentlich? Welches Buch soll ich wirklich lesen?
Sie haben selbst auch viele Literaturkritiken geschrieben. Wie findet man Kriterien für die Auswahl und für die Besprechung? Wann wissen Sie, in welche Kategorie dieses Buch fällt?
Osterkamp: Es hat für mich immer ein ganz zentrales Kriterium gegeben: Gute Literaturkritik misst ein Buch an seinen eigenen Ansprüchen. Das heißt, Sie können ein Werk der Unterhaltungsliteratur nicht mit "Ulysses" von James Joyce vergleichen. Man muss das Buch an seinen eigenen Ansprüchen messen - erst dann ist eine faire und für den Leser orientierende Kritik möglich und denkbar. Die gute Literaturkritik hat auch die Aufgabe, ein Buch durch Vergleiche mit dem Gesamtwerk eines Autors in seiner Bedeutung zu positionieren. Sie muss das Werk innerhalb der gegenwärtigen literarischen Landschaft einordnen. Darüberhinaus muss der Autor einer Literaturkritik über klare identifizierbare ästhetische Kriterien verfügen, die in der Regel dadurch erworben sind, dass man über einen breiten Literatur- und Lektüre-Hintergrund verfügt und die Geschichte der Literatur kennt. Es geht also darum, ein Urteil, das vom Leser der Literaturkritik unter Umständen als subjektiv empfunden wird, durch eine breite ästhetische Erfahrung und durch nachvollziehbare Kriterien zu beglaubigen - und das ist gar nicht einfach.
Das Interview führte Katja Weise