"Die Villa_": "Es geht um Demokratie, unsere Gesellschaft, die Gegenwart"

Stand: 16.09.2024 16:10 Uhr

In Osnabrück ist am Sonntag ein neues Museum eröffnet worden. Ursprünglich sollte es nach dem umstrittenen Juristen Hans Georg Calmeyer benannt werden. Nun hat man sich im Rat auf "Die Villa_" geeinigt. Was ist das Konzept des Hauses?

Mehr als 3.000 Jüdinnen und Juden wurden in der NS-Zeit durch den Osnabrücker Juristen Hans Georg Calmeyer gerettet. Kritische Stimmen verweisen dagegen darauf, dass viele andere Menschen durch Calmeyers Entscheidungen als Behördenleiter in den Niederlanden in Konzentrationslager gekommen sind.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler und andere Hinterbliebene von Opfern hatten im Vorfeld deshalb vor einer geschichtsvergessenen Heldenverehrung gewarnt. Ein eigens beauftragter Beirat hatte schließlich den Namen "Die Villa_" vorgeschlagen. Ein Gespräch mit dem Kurator Thorsten Heese.

Herr Heese, wie haben Sie die Eröffnung erlebt?

Thorsten Heese: Nachdem wir lange das Haus geplant haben - insgesamt waren das sieben Jahre -, war das ein Abschluss eines langen Prozesses, der nicht ganz konfliktlos war. Aber wir sind sehr zufrieden damit, was dabei herausgekommen ist. Die lange Diskussion hat dazu geführt, dass wir einen besonderen Raum für die Öffentlichkeit geschaffen haben, gerade auch im Sinne der Demokratie.

Wir haben einen historischen Ort, da geht es um die NS-Diktatur, und wir haben daraus einen Ort gemacht, wo man aus der Geschichte heraus sehen kann, wie wir unsere heutige Demokratie besser verstehen können und damit auch verstehen, dass wir sie auch schützen müssen, dass sie nicht selbstverständlich ist. Da haben wir viele Beispiele aus der NS-Geschichte, die zeigen, dass die Gesellschaft nicht unverwundbar ist.

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Blick auf die Villa Schlikker, in der das Museum "Die Villa_" eröffnet wurde. © picture alliance / dpa Foto: Friso Gentsch

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Sie haben die Diskussion also auch als konstruktiv und fruchtbar empfunden, richtig?

Heese: Ja, das haben wir schon. Anhand der Diskussion um die Namensvergabe merken wir, dass sich die Erinnerungskultur in den letzten 20, 30 Jahren verändert hat. Hans Georg Calmeyer ist eine spannende Figur: Er wurde in Yad Vashem geehrt, er hat 1955 auch die höchste Auszeichnung der Stadt bekommen. Heute würde man das vielleicht so nicht mehr machen. Wir haben gemerkt, dass man heutzutage anders auf die Geschichte schaut, was nicht bedeutet, dass die Biografie, wie Calmeyer gelebt hat, wie er gewirkt hat, uninteressant wäre. Ganz im Gegenteil, wir können unheimlich viel daraus lernen. Aber ein Haus nach jemandem zu benennen, das ist etwas anderes. Heute würde man vielleicht auch überlegen, ob man ein Graf-Stauffenberg-Gymnasium in Osnabrück so benennen würde.

Die "taz" hat große Vorwürfe erhoben und gesagt, er würde vom NS-Täter zum Musterdemokraten gemacht. Er war NS-Rassereferent, und der Vorwurf ist, dass die Opfer vergessen werden. Wie können Sie dem widersprechen?

Heese: Ich glaube, dass die "taz" da - obwohl ich sie gern lese - nicht ganz genau hingeschaut hat. Wir haben alle Facetten von Hans Calmeyer bei uns in der Ausstellung drin. Wir sagen auch nicht, er sei dies oder das, sondern wir stellen seine Geschichte vor. Wir stellen Personen vor, die von ihm verfolgt worden sind. Femma Fleijsman-Swaalep zum Beispiel hätte eigentlich nach dem System, wie es war, von ihm auf die sogenannte Rückstellungsliste kommen müssen, sie ist aber nach Auschwitz deportiert worden und hat nur durch Glück überlebt. Diese Geschichte wird auch erzählt. Wir glauben, dass Hans Calmeyer in seiner Ambivalenz sehr detailliert dargestellt wird, dass alle Facetten drin sind. Das Publikum muss das selbst entscheiden, wie sie das bewerten wollen.

Es soll vor allem ein Lernort für junge Leute sein, und wir wissen, dass die Demokratie vor allem von jungen Menschen in der Zukunft gemacht wird. Wie gelingt das, gerade Jugendliche anzusprechen?

Heese: Studien zeigen, dass Jugendliche heutzutage, obwohl es in der Schule vorkommt, nicht viel mit dem Nationalsozialismus anfangen können. Sie haben vielleicht von Hitler oder Auschwitz gehört, aber sie können es nicht mehr wirklich einordnen, was das bedeutet. Deshalb haben wir uns für eine Konzeption entschieden, die die Geschichte in jedem Raum mit der Gegenwart verbindet. Wir haben also eigentlich zwei Zugänge: Wir erzählen das, was aus der Geschichte heraus spannend ist und woraus man lernen kann, und andererseits hat man auch zu demselben Thema sofort einen Gegenwartsbezug. Wenn es zum Beispiel um das Ausgrenzen von Menschen in einer Gesellschaft geht, haben wir auch Beispiele, wo sich junge Menschen vielleicht sofort erkennen und denken: Ich bin in der Schule auch gemobbt worden. Dieser Gegenwartsbezug und das, was die Geschichte dazu parallel erzählt, das ist ein neuer Ansatz, ein sehr guter Mix, der eine Lernmöglichkeit bietet, die es sonst noch nicht gibt.

Eine zentrale Frage der Schau ist: Welcher Demokratie-Typ bist du? Wahrscheinlich ist es noch zu früh, um zu sagen, was es da schon für Erfahrungen gibt, oder?

Heese: Das ist auch ein roter Faden, der durch die gesamte Ausstellung geht. Am Anfang kann man sich als Demokratie-Typ einordnen. Bist du eher ein passiver Typ? Oder bist du ein Aktivist, der sofort eine Demo organisiert, wenn ein Thema da ist? Man muss da acht Stationen durchlaufen, Fragen beantworten, und am Ende gibt es eine Auswertung, bei der festgestellt wird, ob man sich richtig eingeschätzt hat. Es geht um Demokratie, es geht um unsere Gesellschaft, um die Gegenwart.

Das Gespräch führte Philipp Schmid.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 16.09.2024 | 09:15 Uhr

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