Eine rote Lavalampe © picture alliance/dpa | Oliver Berg
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AUDIO: Das Jugendzimmer: Transformationsbude auf dem holprigen Weg zur Ich-Werdung (4 Min)

Das Jugendzimmer: Transformationsbude auf dem holprigen Weg zur Ich-Werdung

Stand: 13.06.2024 12:21 Uhr

Wie erleben Teenager ihren Alltag? Damit befasst sich alle vier Jahre die SINUS-Jugendstudie. Die Forschenden werfen dabei auch einen Blick in die "Pubertätshöhlen" und analysieren, was sie über deren Bewohner verraten. NDR Kultur-Redakteurin Juliane Bergmann wirft einen Blick zurück auf ihre 90er-Jahre-Kindheit.

von Juliane Bergmann

Es ist ein ziemlicher Kracher für die 14-Jährige, als sie Mitte der 1990er-Jahre mit ihren Eltern im Möbelladen abbiegen darf in die Abteilung "Jugendzimmer". Hier wartet das neue Leben auf sie. Eine Verheißung. Was jetzt kommt, soll bitteschön entschädigen für die nervige Pickelei und das permanente Überfordertsein im eigenen Körper. Die Auswahl an Möbeln ist bescheiden. Nichtsdestotrotz ist die Euphorie der Teenagerin unbändig. Die Möbelverkäuferin macht auch schon ein ganz feierliches Gesicht. Die Wahl fällt auf: Schreibtisch, Kleiderschrank, ein praktisches Schrankbett. Alles aus einem Guss: massives Kiefernholz - Astlöcher und Jahresringe deutlich zu sehen. Der Hit damals. Sogar Oma ist begeistert. Das wiederum ist ein Dämpfer. Na gut.

Gewagte Stilmischungen

Generationen vor uns teilten sich die Wohnung noch mit der ganzen Familie. Wir Kinder der 1980er-Jahre hatten ihn dann jedoch, diesen Luxus, diesen Raum, der den Eintritt in die Erwachsenenwelt verspricht. Der rituelle Einsatz in vier Wänden. Die Transformationsbude auf dem holprigen Weg zur Ich-Werdung.

Das Zimmer so ambivalent wie seine Bewohner. Das Wichtigste: einen auf dicke Hose machen. Im Fall der erwähnten 14-Jährigen hieß das: Lavalampe, Trockenblumen in der Vitrine, Rollos mit Esperanto-Schriftzug drauf, "Akte X"-Romane im Regal und eine fette, vom Jugendweihe-Geld angeschaffte Stereoanlage, die geradezu unentschlossen alles von den Spice Girls bis hin zu Skunk Anansie zum Hüpfen bringt. Der Stilmix ist gewagt. Kein Wunder - in dieser Zeit gibt’s mit jeder Szene Erstkontakt: den langhaarigen Che Guevaras eine Klasse höher, den akkurat geschminkten Gothics, den extrovertierten, Brecht-lesenden Theatermädchen. Von allen wird sich was abgeguckt. Die eigene Meinung pellt sich nur langsam aus der Schale des Allen-Gefallen-Wollens.

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Weltwissen durch Punk-Musik

Die alten - nur heimlich noch heiß geliebten - Plüschtiere werden in der hintersten Ecke des Schranks verstaut. Entsorgen: No Go - stattdessen bewacht ein überlebensgroßes Poster von den zugegeben recht hysterisch guckenden Ärzten ab sofort das Geschehen. Von den Eltern zur Rede gestellt, was die 14-Jährige denn da höre - von Masturbieren würde da gesungen - schweigt sie beschämt. Als die Luft rein ist, schlägt sie das unbekannte Wort - Masturbieren - im Duden nach. Weltwissen wird hier nicht nur in der Schule draufgeschafft.

Die simple Erkenntnis, dass sich leere Chipstüten nicht in Luft auflösen und dass sich klamottenbefreite Teppiche besser staubsaugen lassen - all das lehrt das Zimmer. Es geschehen erste Schminkversuche alias ästhetische Patzer: zwischen düster-dunklen Lidstrichen, Puderkruste und Paillettennagellack. In diesem Raum wird Knutschen geplant, über potenzielle Knutsch-Partner im Tagebuch referiert und nicht zuletzt - geknutscht. Dass hier aber jede und jeder jederzeit reinplatzen kann, ist natürlich die Hölle.

Ehrenkodex unter Jugendzimmer-Bewohnern

Das Hauptziel dieser Lebensphase: Coolness lernen. Dabei ist das Zimmer Zeuge von eher uncoolen Gefühlsausbrüchen. Hier wird geliebt und gehasst, über binomischen Formeln geheult, Pyjamaparty gefeiert und das erste Mal die anschickernde Wirkung von Mandarinen-Bowle erprobt. Vorm Spiegel wird trainiert, ob sich irgendwas unternehmen lässt gegen das ständige Rotwerden in der Schule. Spoiler: geht nicht.

Als kleine Schwester zweier Jungs weiß das Mädchen auch, wie das andere Geschlecht die Dinge handhabt. Sie kennt deren Versteck für Süßigkeiten, deren Versteck für das Passfoto einer Angehimmelten und das Versteck für Schmutzwäsche. Hier wird nix weiter verraten. Ehrenkodex unter Jugendzimmer-Bewohnern. Der große Liebesbeweis: wenn alle Geschwister zusammen Videos gucken, für die sie teilweise noch viel zu jung sind. In diesem Kino-Saal der Verschwiegenheit halten die Großen den Kleinen die Augen zu.

Was die Zimmer dieser jungen Menschen eint: zwischen der Notration an aufdringlichem Deo, dem "Bravo"-Starschnitt von Blümchen und dem angeschimmelten Proviant in der Schulbrotdose ist dieser Raum unser erstes eigenes, ganz liebevoll-stilUNsicheres Reich: Möhl-Höhle und Pubertier-Kokon. Danke, unser aller Jugendzimmer.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 13.06.2024 | 07:00 Uhr

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