Jagoda Marinić: "Keine gute Zeit für Frauen"
"In den sozialen Medien schreiben immer mehr Frauen wütend über ihren Alltag", hat Jagoda Marinić, Schriftstellerin, Journalistin und Leiterin des Interkulturellen Zentrums Heidelberg, mit Bezug auf die Corona-Krise festgestellt. "Gleichstellung scheint in Zeiten von Krisen kein Thema zu sein, das die Gesellschaft ernsthaft beschäftigt. Man meint, die Frauen fangen es jetzt schon auf", glaubt Marinić.
Frauen erlebten schon bei früheren Epidemien einen Rückfall in Sachen Gleichberechtigung, besonders in ärmeren Ländern. Marinić bezieht sich auf Studien, die über Epidemien wie Zika, Sars oder Ebola erstellt wurden. Die hätten gezeigt, dass Mädchen zum Beispiel in afrikanischen Ländern durch die Seuchen nicht mehr in die Schulen gekommen wären und auch nicht mehr ins Bildungssystem zurückgefunden hätten.
Rückfall in alte Rollenbilder durch die Corona-Krise?
Aber auch für Deutschland befürchtet die Schriftstellerin einen Rückfall in Rollenbilder der 50er-Jahre durch die Corona-Krise. Weil viele Frauen in Teilzeit arbeiteten, würden sie in Krisen am schnellsten den Job verlieren. Auch wenn sie in Kurzarbeit gehen, seien sie viel mehr zu Hause. Zudem wüssten wir noch gar nicht, wie sich die Arbeitslosigkeit entwickle.
Anja Reschke, Gastgeberin des After Corona Clubs, erlebt die Krise anders: Gerade Frauen würden derzeit deutlich sagen, dass sie nicht zu Hause die Kinder betreuen und gleichzeitig arbeiten könnten - der Staat müsse dafür sorgen, dass die Kinder wieder zur Schule gehen können. Auch wenn es längst noch keine flächendeckende Gleichberechtigung gebe, die Gesellschaft hätte sich in den letzten Jahren schon sehr verändert, was jetzt auch sichtbar werde.
Unterschiedliche Führungsstile in der Corona-Krise
Länder mit Frauen an der Spitze sind Marinić Beobachtungen zufolge bis jetzt ganz gut durch die Krise gekommen. Sie sieht hier unterschiedliche Führungsstile. Männer setzten vermehrt auf Hierarchie und militärische Strukturen, würden auch sprachlich mit "Kriegsrhetorik" einen Kampf gegen die Pandemie führen. "Was ganz spannend ist", findet Marinić, sei, "dass Merkel mit so einer ganz anderen Art, die Krise zu managen, großen Erfolg bei der Bevölkerung hat. Es ist eben nicht das typisch Militärische. Sie hat sich auch sprachlich total davon abgewendet und gesagt: 'Ich will eigentlich nicht, dass man hier von Krieg gegen das Virus spricht'". Liegt das am Geschlecht oder an Merkels Fähigkeiten, zu erklären und zu überzeugen?
Auch in anderen weiblich geführten Ländern wie Finnland oder Neuseeland beobachtet Marinić andere Führungsstile. Dort wurden ebenfalls harte Maßnahmen durchgesetzt, aber in freundlichen, erklärenden Worten kommuniziert - während autoritäre Männer wie Trump, Bolsonaro oder Johnson scheitern.
Die "Leopoldina" und die Nöte der Frauen
Die Bundesregierung ließ sich vor der Entscheidung über die Lockerungen in der aktuellen Krise von einem Gremium der Leopoldina beraten, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, die seit dem 17.Jahrhundert besteht und 1.600 gewählte Mitglieder hat. Unter den 26 Gremienmitgliedern waren gerade mal zwei Frauen. "An den Ergebnissen konnte man faktisch ablesen, dass die Nöte, die Frauen durch diese Pandemie begleiten, überhaupt nicht wahrgenommen wurden", sagt Marinić. In den Empfehlungen hätte es zum Beispiel kaum Strategien für die Rückkehr der Kinder an die Schulen gegeben, keine Strategien für Familien, auch häusliche Gewalt und Frauenhäuser seien kein Thema gewesen. "Das sind Probleme, über die man gar nicht nachdenkt, wenn Frauen nicht mit am Tisch sitzen, die diese Probleme kennen und sich überlegen: Wie kann ich so etwas vielleicht lösen?"
After Corona Club: Gesprächsformat mit Anja Reschke
Im After Corona Club spricht Anja Reschke mit Fachleuten aus Psychologie, Wirtschaft, Soziologie, Politik, Medizin und weiteren Wissenschaften. Der Debattierclub über unsere Zukunft. Diskutieren Sie mit! Übrigens: Den After Corona Club gibt es auch als Audio-Podcast.