Stand: 07.11.2019 18:50 Uhr

30 Jahre Mauerfall: "Wir sollten zusammenhalten"

von Lamya Kaddor

Am 9. November jährt sich die Öffnung der innerdeutschen Grenze zum 30. Mal. Die Publizistin Lamya Kaddor war damals elf Jahre alt. Als sie Ende der 90er-Jahre erstmals nach Ostdeutschland reiste, fühlte sie sich dort als Muslimin nicht besonders willkommen. Doch das habe sich inzwischen geändert, schreibt sie in ihrem Gastbeitrag.

Die Autorin, Religionspädagogin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor im Porträt. © Lamya Kaddor
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Publizistin und Religionslehrerin.

30 Jahre Mauerfall, 30 Jahre Diskussionen um Gleichheit und Unterschiedlichkeit von Ost und West. So sehr mich solche Themen heute beschäftigen, 1989 war das noch in keiner Weise abzusehen. Meine Erinnerungen an den Mauerfall sind sehr blass. Als die Mauer fiel, war ich gerade elf Jahre alt, besuchte frisch das Gymnasium und meine Erfahrungen mit Politik beschränkten sich weitgehend auf die Lage vor unserer Haustür in Ahlen/Westfalen und die Frage meiner Umgebung, ob ich denn nun Gastarbeiterkind, Ausländerin oder Deutsche bin. Der politische Fokus meiner Eltern lag primär auf ihrer Heimat Syrien und den übrigen Ländern im Nahen und Mittleren Osten. Sie nahmen den Mauerfall zur Kenntnis, aber weiter betraf es ihr Leben nicht. So wusste ich damals lediglich, dass Berlin eine in Ost und West geteilte und in zwei Ländern gelegene Stadt war.

Wie eine Geschichte mit Happy End

Meine Schwester, einige Jahre älter als ich, hatte eine Oberstufen-Klassenfahrt nach Westberlin unternommen und uns nach ihrer Rückkehr von "der Mauer" erzählt. Realisiert habe ich das Jahrhundertereignis erst am Tag danach in der Schule. Sämtliche Lehrer*innen waren sichtlich aufgekratzt, aufgewühlt und berührt von den Ereignissen der Nacht. Sie sprachen mit uns über die weinenden, freudetrunkenen und glückseligen DDR-Bürger, die zu Fuß oder in seltsamen Autos namens Trabis über die Grenzen kamen.

Mein kindliches Wahrnehmungsvermögen ließ die Vorstellung von einem getrennten Volk damals nur bedingt zu. Es war für mich einfach wie eine Geschichte mit Happy End: Ein Geschwistervolk, jahrzehntelang getrennt, kann sich endlich wieder freudig in die Arme schließen.

Steigende Verunsicherung

Der kindlichen Bewunderung der Ereignisse folgte eine zunehmende Verunsicherung. Erschreckende Bilder der rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda kamen in unser Wohnzimmer. Als ich lange nach dem Mauerfall Ende der 90er-Jahre erstmals in die Region gereist bin, warnten mich viele davor, abends und an bestimmten Orten unterwegs zu sein. Das mulmige Gefühl von sogenannten No-Go-Areas für Ausländer und die Angst davor, Opfer von Rassismus zu werden, war plötzlich verstärkt da, auch wenn es natürlich im Westen ähnliche Vorfälle gegeben hatte. Folglich fühlte ich mich bei meinem ersten Besuch in Ostberlin ziemlich, ziemlich fremd. Nicht nur wegen meines Aussehens und meiner Religion - ich glaubte zudem, eine gewisse Autoritätshörigkeit und Zurückhaltung vor staatlicher Gewalt zu spüren, wie ich es eigentlich nur von den Besuchen bei meiner Familie im diktatorischen Syrien kannte.

Bis heute, das kann ich nicht verleugnen, verbinde ich manch unschöne Erinnerungen mit dem Osten Deutschlands. Es wurde gegen mich demonstriert, mir schlug offene Ablehnung entgegen, ich erhielt böse, teils kriminelle Anfeindungen von dort, nur weil ich Muslimin und aus Sicht mancher keine Deutsche bin. Mitglieder des Liberal-Islamischen Bunds dort stöhnen mitunter sehr über die Situation.

Emotionale Verbundenheit mit dem Osten

Lamya Kaddor © Dominik Asbach Foto: Dominik Asbach
AUDIO: 30 Jahre Mauerfall aus muslimischer Sicht (5 Min)

Dennoch spüre ich persönlich heute mehr und mehr eine emotionale Verbundenheit mit Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg. Und das hängt ironischerweise mit den Pauschalurteilen zusammen. Denn so wie sich Muslime derer erwehren und Spaltungen überwinden müssen, leiden Ostdeutsche unter dem Vorwurf, allesamt rechts, weinerlich und undankbar zu sein; gerade nach den jüngsten Wahlergebnissen für die AfD. Und so bin ich heute dennoch gerne in Leipzig, Dresden, Erfurt und anderswo, sei es beruflich oder privat. Jenseits der Hetze erlebe ich nämlich viel Offenheit, menschliche Wärme, großen Mut im Widerstand gegen Rechtspopulisten und zugewandte Neugier - auch für muslimisches Leben.

Egal, was uns im Detail unterscheiden mag, wir sind Deutsche und leben in einem wunderbaren Land. Wir sollten zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen. Das bleibt 30 Jahre nach dem Mauerfall weiterhin ein Arbeitsauftrag für alle aufrechten Demokraten.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 08.11.2019 | 15:20 Uhr

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