NDR Serie "Was war da los?": Lang nicht mehr gebrüllt, Ratsherr!
Bekommt Lübeck hier im Jahr 1915 neue Exponate für ein Gruselkabinett? Im Gegenteil. Die lumpenhaften Schauergestalten zeugen - man mag es nicht sehen - von mondäner Symbolik und einer jahrhundertealten diplomatischen Strategie. Die NDR Serie "Was war da los?" erzählt die Geschichte.
Nur noch klägliche Reste sind übriggeblieben, das Fell hängt in Fetzen herunter und an vielen Stellen blitzt das Holz durch, auf das es einst aufgespannt war - der letzte Weg dieser Löwen durch Lübeck im Jahr 1915 war alles andere als glorreich. Dabei haben die Tiere zu diesem Zeitpunkt bereits eine mehr als 400-jährige Geschichte hinter sich. Was also war da los? Eine Spurensuche.
Ein erster Hinweis führt zurück in die Hansezeit, genauer in das Jahr 1483. Damals schreibt einer der Lübecker Ratsherren an die niederländische Stadt Kampen - und bedankt sich für "eyn pär jungere leuwen", die kurz zuvor als Geschenk in Lübeck angekommen sind. Eine Gabe also von einer Hansestadt an eine andere. Aber warum?
Geschenke als diplomatische Schmiermittel
"Man muss grundsätzlich sagen, dass wir von einer Zeit sprechen, in der die Geschenkkultur sehr stark war, noch mehr als heute, wo man ja zum Teil gar keine Geschenke mehr machen darf in der Politik", sagt Dr. Angela Huang von der Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse und des Ostseeraums am Europäischen Hansemuseum Lübeck. Delegationen wurden oft kostbare Waren mitgegeben. Zu den Hansetagen etwa - offiziellen Versammlungen der Hansestädte - gab es sogenannte Ehrenweingeschenke: Entsprechend ihrer Stellung wurde den Gesandten eine bestimmte Menge Wein geschenkt. "Das gehörte dazu, Repräsentation spielte eine große Rolle", sagt Huang. Natürlich nicht ganz uneigennützig, die wechselseitigen Geschenke sollten die Handelsbeziehungen sichern. Auch der Leiter des Lübecker Stadtarchivs, Dr. Jan Lokers, spricht vom "diplomatischen Schmiermittel Geld" und meint: "Wenn man etwas erreichen wollte, gab es Geldgeschenke, Pelze oder Schmuck."
Löwen für die Löwenstadt?
Lebende Tiere und noch dazu Löwen waren dennoch äußerst ungewöhnlich, da sind sich Huang und Lokers einig. Huang ist sicher: "Es muss einen besonderen Anlass gegeben haben, das macht man nicht einfach so." Es sei auch unwahrscheinlich, dass ein solches Geschenk unangekündigt in Lübeck ankam. Kampen war 1441 der Hanse beigetreten, wurde nach Angaben von Archivleiter Lokers aber möglicherweise als unzuverlässiges Mitglied angesehen. Laut Huang wurde die Stadt jedoch sowohl kurz vor und nach dem wertvollen Geschenk als aktives Mitglied geführt, ein eklatanter Bruch sei nicht zu erkennen. Sich innerhalb der Hanse mit Lübeck gut stellen zu wollen, war aber in jedem Fall nicht die schlechteste Idee. Denn Lübeck gehörte zu den wichtigsten Hansestädten, dort fanden zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert die meisten Hansetage statt. Außerdem hatte Lübeck mit dem Status als Reichsstadt eine herausgehobene Stellung in Norddeutschland.
Und: Lübeck wird mit Löwen assoziiert, seit Heinrich der Löwe die Stadt 1159 nach einem Brand neu gründete. Zuvor hatte er versucht, oberhalb von Lübeck eine neue Siedlung namens Löwenstadt zu gründen. Hinzu komme die hohe Symbolkraft von Löwen, ergänzt Archivleiter Lokers: Sie stehen für Stärke und Kraft. Ob sich die geschenkten Löwen aber konkret auf den Beinamen Löwenstadt beziehen, ist nicht überliefert, das Dankesschreiben des Rates enthält dazu keine Hinweise.
Lübecker Rat hielt bereits sei 1436 Löwen
Klar ist aber: Die zwei Löwen, die 1483 aus Kampen nach Lübeck kamen, waren nicht die ersten. Die Jahresabrechnungen der Kämmereiherren zeigen, dass der Lübecker Rat im 15. Jahrhundert immer wieder Löwen angeschafft oder erhalten hat. Bereits im Jahr 1436 werden Kosten von mehr als 40 Mark für die Haltung und Verpflegung aufgeführt. In den folgenden Jahren steigen die Kosten bis auf 110 Mark 1441, dann sinken sie wieder. "So müssen etwa im Juli 1436 zwei oder mehr Löwen angeschafft und etwa im März 1447 das letzte dieser Tiere eingegangen sein", heißt es in einem Artikel der "Lübeckischen Blätter". Ab 1450 werden dann wieder kontinuierlich Verpflegungskosten für Löwen aufgeführt, bis 1464 das letzte dieser Tiere gestorben zu sein scheint. Danach tauchen erst 1481 wieder Löwen in den Rechnungen auf: "Es scheint (...) 1481 und 1482 nur ein Löwe verpflegt zu sein; die Mehraufwendungen der nächsten Jahre sind bedingt durch den Unterhalt der beiden jungen Löwen, die (…) zu Anfang des Jahres 1483 von der Stadt Kampen geschenkt wurden; 1487-98 war nur noch eines der Tiere am Leben", heißt es in der Zeitung.
Löwen-Luxus, den Lübeck sich leisten konnte
Kampen war also entweder nicht die einzige Stadt, die auf die Idee mit dem tierischen Geschenk kam - oder die Ratsherren haben sich auch auf anderen Wegen Löwen beschafft. Leisten konnte sich die Stadt die Haltung jedenfalls, so Wissenschaftlerin Huang. Der Handel habe Wohlstand gebracht, die Bevölkerung hatte Zugang zu zahlreichen Gütern, die es anderswo nicht gab. Natürlich musste man sich die Waren auch leisten können und das konnten längst nicht alle. "Fleisch kostete natürlich Geld, wurde aber für Ratsessen zum Beispiel auch eingekauft, also gerade die Oberschicht in Städten des Mittelalters isst durchaus Fleisch und das auch nicht zu wenig. Das darf man sich nicht zu spartanisch vorstellen", sagt Huang.
Wo und wie genau die Löwen gehalten wurden, ist nicht bekannt. Doch Archivleiter Lokers ist sich sicher, dass die Löwen in irgendeiner Form der Öffentlichkeit präsentiert wurden. "So ein Geschenk musste man den Bürgern zeigen, die Löwen wurden sicher nicht versteckt", meint er. "Ich kann mir gut vorstellen, dass sie irgendwo außerhalb auf einer abgezäunten Fläche gehalten wurden." Das könnte zum Beispiel auf dem 1163 erstmals urkundlich erwähnten Gut Alt-Lauerhof im Waldgebiet Lauerholz der Fall gewesen sein. Einer Sage nach sollen dort zu Ehren von Heinrich dem Löwen die namensgebenden Tiere gefüttert worden sein.
Über die Jahrhunderte vergessen und entsorgt
Repräsentativ waren die Löwen auch nach ihrem Tod, zumindest einige der Tiere wurden ausgestopft und im Rathaus ausgestellt. Dort blieben sie offenbar mehr als 400 Jahre. Noch in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1900 werden sie erwähnt: "In der letzten Ausgabe der 'Vaterstädtschen Blätter' ist in einer Beschreibung der oberen Teile unseres Rathauses der dort ausgestellten fünf Löwenbälge oder vielmehr ihrer spärlichen Überreste gedacht." Schon damals waren die Stücke also in einem schlechten Zustand. Im Jahr 1915 hat sich die Stadt sich dann endgültig von dem einst sensationellen Geschenk verabschiedet - die Überreste wurden auf einer offenen Kutsche abtransportiert und entsorgt. Immerhin: Für Aufsehen dürften die Löwen auch bei dieser Fahrt gesorgt haben.