Hafenstraße: "Das war wie eine Dauerdroge"
In den 1980er-Jahren kommt es im Kampf um die Hamburger Hafenstraße zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die Auseinandersetzungen dauern mehrere Jahre. Drei Frauen erinnern sich an eine bewegte und teils angstvolle Zeit.
Alles beginnt zunächst friedlich, als Arbeits- und Obdachlose sowie Studenten leerstehende Wohnungen in der St. Pauli-Hafenstraße und der Bernhard-Nocht-Straße besetzen. Simone B. ist 1982 eine der ersten Bewohnerinnen in der Hafenstraße. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Ihr behagt der Charakter einer vielfältigen und undogmatischen Häusergemeinschaft von Anfang an: "Einen Teil meiner Zeit habe ich in fremden Küchen verbracht. Das war prima. Ich habe einfach nur aufgenommen, was da los war."
Häuser werden unter Räumungsdrohung zur Festung
Die Wohnungsbaugesellschaft SAGA, Eigentümer der Häuser, stellt Strafantrag und lässt die Häuser immer wieder polizeilich räumen. Sie plant, einige Häuser abzureißen. Doch die Besetzer kehren zurück. Die Häuser der Hafenstraße werden in den folgenden Jahren unter der permanenten Räumungsdrohung zu einer Festung. Gemeinsam bauen die Besetzer ihre Häuser um: Die Türen werden verstärkt, Durchgänge herausgebrochen, Fluchtwege geschaffen und Fallen gebaut. Auf dem Dach wird Stacheldraht ausgerollt, um mögliche Hubschrauberlandungen zu verhindern. In zahlreichen Polizeieinsätzen hatten die Besetzer die Ordnungshüter zuvor als wenig zimperlich erlebt: "Die haben dich einfach gegriffen, haben dich irgendwo in die Ecke geschmissen und man konnte sich überhaupt nicht mehr rühren. Das waren schon totale Ohnmachtsgefühle", erinnert sich Simone.
Frauenhaus im besetzten Gebäude
Zu denen, die trotzdem einziehen, gehört Scholeh R. Der jungen Iranerin geht es wie vielen Besetzern in der Hafenstraße. Sie zieht als junges Mädchen von zu Hause aus und will mit ihren als spießig empfundenen Eltern eigentlich nichts mehr zu tun haben. "Dieses Gefühl, alle zusammen machen was, alle denken sich was aus, alle geben alles, was sie haben dafür - das war großartig. Das war wie eine Dauerdroge."
Nicht einmal, als ein Freund ungerechtfertigt unter Spitzelverdacht gerät, denkt sie daran, auszuziehen. Verratsfantasien bekommen unter der ständigen Angst vor einer gewaltsamen Räumung einen Stellenwert, der die Frauen belastet. "Das fand ich ganz schrecklich. Ich bin zu einer Zeit eingezogen, als der Druck ganz heftig war", erinnert sich Scholeh R. Die Idee wird geboren, unter dem Dach der besetzten Häuser ein eigenes Frauenhaus aufzumachen, um sich von den Männern abzugrenzen. Über der Gaststätte "Onkel Otto" wohnen schließlich rund 15 Frauen. "Wir hatten einfach Lust, gemeinsam als Frauen in einem Haus zu wohnen", erinnert sich Rosi P.
Immer mehr Sympathisanten
Rosi kommt im Winter 1986 in die Hafenstraße. Zu dieser Zeit droht die Situation zu eskalieren. Rosi erlebt am 20. Dezember eine Demo mit 12.000 Teilnehmern durch die Hamburger Innenstadt. "Das war die Demo, die praktisch den Umschlag gebracht hat. Da war wieder Optimismus in der Hafenstraße." Die Gruppe der Sympathisanten wächst ständig, sie unterstützten die Besetzer regelmäßig, etwa bei der Wiederbesetzung geräumter Wohnungen, erinnert sich Rosi: "Hamburger Familien - zum Beispiel aus Bergedorf - brachten Essensspenden, Decken und alles Mögliche. Das war ein sehr gutes Gefühl, das auch Menschen mit anderen Lebensentwürfen uns unterstützt haben."
"Von wegen starke Männer"
Trotzdem bleiben der Senat und auch die Medien auf Konfrontationskurs. Die Stimmung in der Stadt ist 1986/1987 zum Zerreißen gespannt. Ein großer Teil der Hamburger Presse bezeichnet die Besetzer als "Terroristen" und "Chaoten", mit denen man kurzen Prozess machen müsse. Als Gegengewicht hält ein Radio-Sender aus der "Festung Hafenstraße" den großen Kreis der Unterstützer auf dem Laufenden: "Wir sind ein neuer Freiheitssender. Wir nehmen uns das Recht, unsere Meinung frei zu sagen und uns darzustellen. Mit Radio Hafenstraße haben wir uns diese Möglichkeit geschaffen. Mit Radio Hafenstraße sind wir in der Lage, das Meinungsmonopol zu durchbrechen."
Nachtwachen sollen vor Polizeieinsätzen warnen
Die ständige äußere Bedrohung und die innere Anspannung geht an den Besetzern, auch an den sogenannten starken Männern, nicht spurlos vorüber, erinnert sich Simone: "Es gab Situationen, da hast du gedacht, wenn die Polizei jetzt kommt, dann ist es gerade richtig doof. Bei uns im Haus waren etliche krank. Von wegen starke Männer, einige hat es einfach umgehauen. Ich bin Suppe kochen gegangen. Gott, was für eine Situation: Man hat gedacht, gleich geht die große Konfrontation ab und was machst du, du stehst und machst Süppchen."
Um nicht unvorbereitet zu sein, gibt es Nachtwachen. Scholeh, die auch im Frauenhaus lebte, erinnert sich: "Ich habe gleich versagt. Ich bin eingeschlafen und dann gab es einen schlimmen Einsatz. Dann stand die Polizei vor der Tür und alle waren im Schlafanzug - das war echt scheiße."
Das große Aufräumen
Am 17. November 1987 bietet Oberbürgermeister Klaus von Dohnanyi den Besetzern schließlich einen Pachtvertrag an. Die rund 200 Besetzer nehmen das Angebot an. Nach dem großen Aufatmen beginnt das große Aufräumen. Für die Bewohner stellt sich die Frage, wie es für sie weitergeht. Scholeh verlässt wie andere die Hafenstraße, Simone wohnt bis heute dort, es kommen neue Bewohner hinzu. Alle, die damals dabei waren, eint, dass die Jahre der Auseinandersetzung sie zutiefst geprägt haben. “Viele haben den ganzen Stress psychisch nicht so gut weggesteckt“, resümiert Simone.
Kein Nachwuchsmangel, aber Veränderungen
Es dauert etwa zehn Jahre, bis die Bewohner der einst besetzten Häuser von der Politik in Ruhe gelassen werden. Die Solidarität reicht längst ins hanseatische Bürgertum hinein, dessen Kinder sich zum Teil unter den Besetzern finden. Schließlich weigern sich sogar Gerichtsvollzieher, Räumungsurkunden zuzustellen.
Eine neu gegründete Genossenschaft - "Alternativen am Elbufer" - kauft der Stadt Mitte der 90er-Jahre elf Häuser ab. 2007 entsteht auf einer Freifläche sogar ein Neubau: Plan B. Hier leben 40 Bewohnerinnen und Bewohner, unter anderem Sabine. An Nachwuchs mangelt es nicht: Die 36-jährige Melli wohnt in einem der einstmals besetzten Häuser. Sie ist über eine Antirassismus-Initiative in die Hafenstraße gekommen.
Die mit Parolen bemalten Fassaden gibt es bis heute. Und dennoch hat sich das Viertel verändert. Das Frauenhaus existiert nicht mehr, Gesamtversammlungen der Bewohner sind häufig nur spärlich besucht. Die Volxküche, 1982 eröffnet und staatlich anerkannter Unruheherd, wie Simone sagt, gibt es aber noch. Neben Menüs für wenig Geld ist sie immer noch das informelle Zentrum der Hafenstraße und Hamburgs bekannteste Politkantine.