"Völlig verborgene Kapitel der Welfengeschichte"
Über die Verstrickungen bekannter Persönlichkeiten, Firmen und Familien mit dem Regime der Nationalsozialisten ist umfangreich geforscht worden. Die Geschäfte eines der bedeutendsten Adelshäuser Europas, der Welfen, hingegen waren bisher nahezu unerforscht. Woran das liegt, erklären Michael Wech und Thomas Schuhbauer im Interview. Was während der Recherchen zutage kam, "war für uns alle absolut unerwartet", sagen die Autoren der Dokumentation "Adel ohne Skrupel - Die dunklen Geschäfte der Welfen".
NDR.de: Nach der Ausstrahlung einer 60-Minuten-Fassung Ihrer Dokumentation in der ARD Mitte August hat der Erbprinz von Hannover erklärt, die Rolle seiner Familie in der NS-Zeit erforschen lassen zu wollen. Ist das das Beste, was zu erhoffen war?
Thomas Schuhbauer: Hoffnung gab es ja auch schon 1999, als sein Vater eine Aufarbeitung ankündigte. Wie viele ehemalige Zwangsarbeiter von Welfen-Firmen sind wohl seitdem gestorben? Von daher muss nun auf die Erklärung des Erbprinzen die Tat folgen, insbesondere die Freigabe und Veröffentlichung von Akten aus dem Privatarchiv der Welfen. Wir haben ja nun offensichtlich den Anstoß zu der Erklärung gegeben und hätten uns sehr gewünscht, dass der Erbprinz uns seine Sicht der Dinge in einem persönlichen Interview dargelegt hätte. Aber es gilt immer noch, was wir im Film deutlich gemacht haben: Der junge Erbprinz steht zwar in einer historischen Verantwortung, trägt aber keine persönliche Schuld. Er hat jetzt die Chance, die Geschäfte der Welfen im 20. Jahrhundert gründlich und transparent aufzuarbeiten und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Wir werden das mit Interesse beobachten und an dem Thema dranbleiben.
Weshalb zeigt das NDR Fernsehen nun noch mal eine 75-Minuten-Fassung?
Schuhbauer: Eine 75-Minuten-Fassung war von vornherein geplant, für den ARD Sendeplatz musste der Film jedoch gekürzt werden. Das enorme Echo auf die Ausstrahlung der 60-Minuten-Fassung zeigt, dass wir einen Nerv getroffen haben. In der 75-Minuten-Fassung konnten wir weitere Rechercheergebnisse einfließen lassen, die das Bild erweitern und vertiefen. Dazu gehören etwa die Bekanntschaft zwischen Herzog Ernst August und Hermann Göring sowie die Eigentümerfrage des Evangeliars Heinrichs des Löwen.
Was hat Sie dazu bewegt, sich mit der Geschichte der Welfen während der Nazi-Diktatur zu beschäftigten?
Schuhbauer: Während der Arbeit zu einer zweiteiligen Dokumentation über die Familie Flick fiel mir auf, dass eine große Wissenslücke bestand, was die wirtschaftliche Zusammenarbeit vieler Unternehmen mit dem NS-Regime betrifft. Nur wenige haben eine Aufarbeitung nach 1945 selbst eingeleitet. Und die Welfen haben ihre Geschichte im 20. Jahrhundert noch gar nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. Das war Anlass, genauer hinzusehen.
Wieso sind die dunklen Geschäfte der Welfen bis heute kaum bekannt?
Schuhbauer: Die Welfen haben sich im Nationalsozialismus nie besonders exponiert. Doch dass ein Adelshaus in dieser Zeit wirtschaftlich aktiv wird, Unternehmen kauft, gründet und betreibt, ist ungewöhnlich und nicht zu erwarten gewesen. Nach 1945 haben die Welfen versucht, diese wirtschaftlichen Beteiligungen geräuschlos und diplomatisch zu "bereinigen". Deshalb waren die meisten Spuren verwischt.
Zwei Historikerinnen haben für die Produktion in verschiedenen Archiven nach Original-Dokumenten gesucht. Wie sind sie dabei vorgegangen?
Michael Wech: Die beiden Historikerinnen Sabine Loitfellner und Ulrike Felber haben über einen Zeitraum von etwa drei Jahren diverse Archive in Österreich durchforstet. Dabei gab es auch Zufallstreffer: So ist zum Beispiel Sabine Loitfellner auf die Verbindung von Herzog Ernst August zur Firma FMW [Flugzeug- und Metallbauwerke Wels, d. Red.] gestoßen. Diese Verbindung war bislang vollkommen unbekannt. Danach begann eine neue Rechercherunde für uns Autoren: Vor Ort in Wels haben wir zwei ehemalige Lehrlinge der Welfen-Firma ausfindig gemacht, die neue Details lieferten.
Zusätzliche Recherchen im oberösterreichischen Landesarchiv brachten weitere Erkenntnisse. Dort gab es einen Hinweis auf die Verlagerung der Tankdeckelproduktion der Welfenfirma FMW für das Düsenflugzeug Me 262 nach Grein. Alle Mauthausen-Forscher wissen, dass es in Grein ein KZ-Außenlager gegeben hatte. Bislang war aber unklar, für welche Firma. Transportlisten aus dem Museum des Konzentrationslagers Ausschwitz belegen, dass auch "Aeromechaniker" in das KZ-Außenlager nach Grein geschickt wurden. So entwickelte sich die Recherche wie ein Puzzle-Spiel.
Welche Rechercheergebnisse haben Sie am meisten überrascht?
Wech: Die Initialrecherche zum Thema FMW hat das Fenster zu einem bislang völlig verborgenen Kapitel der Welfengeschichte aufgestoßen. Was dort zutage kam, war für uns alle absolut unerwartet. Ein weiterer Themenkomplex im Film ist ja die Versteigerung des jahrzehntelang verschwunden gewesenen Evangeliars Heinrichs des Löwen, das im Besitz der Welfen gewesen war und 1983 plötzlich bei einer Versteigerung auftauchte. Unmittelbar nach der Versteigerung gab es zahlreiche Recherchen, die der gleichen These nachspürten, wie wir es in unserem Film tun. Danach waren es eben doch die Welfen, die hinter dem Verkauf steckten. Darauf konnten wir aufbauen. Die beiden vom ehemaligen niedersächsischen Kultusminister Rolf Wernstedt aufgespürten, beziehungsweise ihm zugespielten Dokumente belegen die Recherchethese in einer Klarheit, die wir so nicht vermutet hatten.
Welche offizielle Reaktion der Welfen hat es vor der Ausstrahlung auf die Dreharbeiten gegeben?
Schuhbauer: Unsere Interviewanfragen wurden abgelehnt, eine detaillierte Anfrage zu den Themen des Films wollte das Haus nicht beantworten. Denn der junge Erbprinz, der mittlerweile die wirtschaftlichen Angelegenheiten der Familie übernommen hat, habe noch keine Zeit gehabt, sich intensiv mit den Komplexen zu befassen. Es soll jedoch eine Aufarbeitung dieser Zeit stattfinden - ob wir mit unserer Anfrage das erst ausgelöst haben, sei dahingestellt.
Anmerkung der Redaktion (17.11.2016): Ernst August hat das Familienarchiv 2014 für Historiker geöffnet. Ein Zwischenbericht belegt nun die Verstrickungen seiner Vorfahren in der Nazi-Zeit.
Das Oberhaupt der Welfen, Ernst August Prinz von Hannover, hat sowohl ein Interview vor der Kamera als eine schriftliche Stellungnahme zu Ihren Rechercheergebnissen abgelehnt. Wie kam dann das Interview mit seinem Bruder Heinrich von Hannover zustande?
Schuhbauer: Wir haben ihn parallel zu seinem Bruder schriftlich angefragt, und er hat spontan zugesagt.
Was waren für Sie die größten Herausforderungen bei der Realisation des Films?
Wech: Wir haben bei der Recherche in vielen Bereichen absolutes Neuland betreten und sind an Stellen gelangt, an denen vor uns noch nie jemand war. Dort zu navigieren, also anfangs in einem Nebel zu stochern, der sich nur sehr, sehr langsam lichtet, war extrem schwierig. Wir mussten Fakt A und Fakt B zusammenbringen. Was jetzt im Film als selbstverständlich und logisch erscheint, mussten wir erst verknüpfen. Dieser Teil der Arbeit war aber auch der spannendste.
Wie haben sich andere deutsche Adelshäuser während der Nazi-Diktatur verhalten?
Schuhbauer: Es gab alle Schattierungen, wobei der deutsche Adel in der Mehrheit anfällig der NS-Ideologie gegenüber war, wie Stephan Malinowski in seiner Untersuchung "Vom König zum Führer" gezeigt hat. Einige Einzelpersonen wie der Kaisersohn und Schwager von Herzog Ernst August, August "Auwi" Wilhelm von Preußen, oder Mitglieder der Adelsfamilien von Hessen und Schaumburg-Lippe, schlossen sich schon vor 1933 der NS-Bewegung an und übernahmen zum Teil hohe Positionen in SA und SS. Eine Minderheit, vor allem aus dem süddeutschen Adel, blieb aus kirchlich-monarchistischer Tradition auf Distanz oder gingen nach anfänglicher Begeisterung in den Widerstand, der in das Attentat vom 20. Juli mündete. Wo standen die Welfen? Wir können einer wissenschaftlichen Untersuchung der Welfengeschichte nicht vorgreifen. Unser Eindruck nach den vorliegenden Quellen ist: Die Welfen bewegten sich zwischen diesen beiden Polen - sie exponierten sich nicht als Funktionäre des Nationalsozialismus, nutzten jedoch ohne große Skrupel die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die das Regime bot.
Einige geschichtliche Ereignisse haben Sie von Schauspielern nachstellen lassen. Wie aufwendig sind Drehortsuche und Ausstattung gewesen?
Wech: Wir können uns auf ein extrem gut eingespieltes Team verlassen, da die Firma ECO Media viel Erfahrung mit dieser Form der Dreharbeiten, sogenannten Re-Enactment-Szenen, hat. Verblüffend ist in der Tat, wie gut die Drehorte der nachgestellten Szenen mit den Originalschauplätzen harmonieren. Vor allem die Aufnahme aus dem Innern von Schloss Marienburg und die Übergabe des Evangeliars im Dezember 1945 ergänzen sich wie eine Einheit. Unsere Szenenbildnerin Hanne Lauch hat jedes noch so kleine Detail, das wir ihr durch unsere dokumentarische Arbeit liefern konnten, berücksichtigt. Ein wahres Meisterwerk ist der Nachbau des Evangeliars Heinrichs des Löwen. Das ist schon Kunst an sich. Das Original der mittelalterlichen Handschrift kann nur alle zwei Jahre besichtigt werden - im Tresorraum der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Dann sind aber nur zwei Seiten aufgeschlagen - hinter Panzerglas. Den originalgetreuen Einband des Buches, den wir nachgebaut zeigen, kann man nur in unserem Film sehen.
Das Interview führte Ulla Brauer/NDR.de.