Mauerfall: Alles andere als Schnee von gestern
In unserer Reihe "Grenzenlos Denken. Betrachtungen 30 Jahre nach dem Mauerfall" haben wir Schriftstellerinnen, Schriftsteller, Persönlichkeiten der Kultur und des öffentlichen Lebens gebeten, für uns einen Essay zu schreiben. Der zehnte und letzte Kandidat ist der 1962 in Dresden geborene Schriftsteller Ingo Schulze. Er sucht nach den für ihn wichtigen Aspekten dieses deutsch-deutschen Ereignisses.
Je unsicherer die Gegenwart, desto drängender wird das Bedürfnis, die Vergangenheit zu deuten, um die eigenen Ansichten und Entscheidungen zu rechtfertigen. Das 30-jährige Jubiläum der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989 ist solch ein Akt der Selbstvergewisserung und damit ein Kampf um die Deutungshoheit der damaligen Ereignisse. Es ist also alles andere als Schnee von gestern. Einen wesentlichen Unterschied macht es bereits, ob ich vom 30. Jahrestag des Mauerfalls spreche oder den Herbst '89 als einen Prozess der Selbstbefreiung und Selbstermächtigung begreife. Spreche ich vom Mauerfall, habe ich den Westen sofort im Boot und der weitere Gang der Geschichte ist programmiert. Verstehe ich die Öffnung der Grenzen aber als einen Meilenstein unter anderen im Prozess der Selbstermächtigung, werden wieder jene Alternativen sichtbar, die damals auf der Tagesordnung standen und heute vergessen sind. Eine solche vergessene Alternative stellen beispielsweise die damaligen Versuche der Beschäftigten dar, sich die volkseigenen Betriebe tatsächlich anzueignen. In jedem Bereich der Gesellschaft gab es mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, diejenigen Kolleginnen und Kollegen an die Spitze zu wählen, die man als dafür am besten geeignet befand. Dieser Prozess wurde durch den Beitritt beendet.
Eine weltweite Zäsur, die unsere Gegenwart bestimmt
Wenn ich an die Zäsur von 1989 denke, sind mir sechs Aspekte heute besonders wichtig. Zum einen ist es die internationale Dimension. Für die Sowjetunion und Osteuropa liegt diese auf der Hand. Betrachtet man aber Asien - insbesondere China, Indien oder Vietnam -, die arabische Welt, die afrikanischen und südamerikanischen Staaten - überall hat 1989/90 auf eigene Art und Weise stattgefunden. Es war eine weltweite Zäsur, die unsere Gegenwart bestimmt.
Zweitens - die teilweise unmerklichen Veränderungen von Selbstverständlichkeiten in jeder und jedem von uns. Dazu gehört auch das Verschwinden einer sozialistischen Alternative aus den meisten Köpfen, die Schwächung sozialer und linker Bewegungen, nicht zuletzt die Selbstaufgabe einstmals linker Parteien Westeuropas.
Drittens konnte erst nach dem Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation der Kapitalismus tatsächlich global werden.
Wir haben viel Zeit verloren
Viertens wird nicht nur der Widerspruch zwischen privaten Besitzverhältnissen und gesellschaftlicher Produktion immer explosiver, sondern auch die Unangemessenheit einer technologischen Entwicklung, die wenige Eigentümer hat, aber alle betrifft. Google, Amazon, Facebook, Microsoft etc. wie auch die avanciertesten Technologien (Quantentechnik, Künstliche Intelligenz) werden privatwirtschaftlich betrieben und sind damit demokratischer Kontrolle entzogen - oder die Forschungen finden in chinesischen Labors statt oder werden im Auftrag des Pentagon finanziert.
Fünftens war der Osten dem Westen in einem überlegen: Er lebte nicht oder nicht im selben Maße vom Süden. Im real existierenden Sozialismus wurde die Umwelt im Vergleich zum europäischen Westen eher mehr als weniger ruiniert. Doch mussten wir den Dreck, den die Herstellung unserer Produkte verursachte, noch selbst schlucken. Als Otto Schily nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit einer Banane in der Hand vor die Kamera trat, wollte er klarmachen: Die Ostdeutschen haben sich für den entschieden, von dem sie sich den größten Wohlstand versprechen. Ganz gleich, ob man ihn dafür kritisierte oder lobte, alle taten so, als würden die Bananen an Rhein und Mosel wachsen. Dass sie zu Preisen importiert werden, die denjenigen, die auf den Plantagen arbeiten, kaum ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen, spielte damals und spielt heute keine Rolle oder ist bestenfalls eine Fußnote wert.
Sechstens. Weil die Selbstbefreiung des Ostens als Sieg des Westens interpretiert wurde, bestärkte dies den Neoliberalismus und verhinderte bereits damals anstehende Reformen und Veränderungen. Wir haben viel Zeit verloren.
Unverzichtbare Erfahrungen
Ein Überleben der Menschheit in Würde wird nur dann gelingen, wenn die weitere Zuspitzung der Verhältnisse (soziale Ungleichheit und Migration, Ökologie, militärische Konfrontation) endlich jene Kräfte hervorbringt, die dem sanften Zwang des besseren Arguments auch den politischen Willen und die politische Macht hinzufügen können. Die Erfahrungen und Ideen, die in den wenigen Wochen und Monaten der Jahreswende 89/90 ausprobiert und weitergedacht wurden, können dabei hilfreich sein. Ich würde sogar sagen, sie sind unverzichtbar.