Das traurige Schicksal der Kriegswaisen
Zum Ende des Zweiten Weltkriegs müssen etwa zwölf Millionen Menschen aus den früheren deutschen Ostgebieten flüchten oder werden vertrieben. Die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. Hunderttausende sterben bereits auf der Flucht: Sie erfrieren, verhungern oder werden bei Rache-Aktionen der Roten Armee getötet. Auch Zehntausende Kinder sind unterwegs - allein. Sie haben alles verloren: Ihre Eltern, ihre Heimat, ihre Wohnung. Die Kinder sind traumatisiert, ausgehungert, häufig schwer krank.
Zehntausende Flüchtlinge in Mecklenburg-Vorpommern
Viele dieser Kriegswaisen kommen in Mecklenburg-Vorpommern an, das ein wichtiges Durchgangsland für die Flüchtlinge aus den Ostgebieten ist. 1945 sind allein dort 30.000 elternlose Flüchtlings- und Vertriebenenkinder registriert. Der Strom der Kriegswaisen endet auch in den ersten Jahren nach dem Krieg nicht: An einem einzigen Tag im Mai 1947 kommen in Pasewalk in Vorpommern 3.000 Kinder aus Ostpreußen an.
"Wirklich trauern konnte ich damals nicht"
Rotraud Becker ist eines dieser Kinder. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren sechs Geschwistern flieht sie im Februar 1945 aus Danzig nach Mecklenburg. Sie kommen auf einem Dachboden in der Nähe von Güstrow unter. Dort muss die damals Sechsjährige erleben, wie die Russen ihre Mutter vergewaltigen. Die wird schwanger, lässt das Kind abtreiben und stirbt in der Klinik. Die Ärzte teilen lediglich mit, dass die Mutter an Typhus litt und eine Treppe hinuntergestürzt sei. Woran sie letztendlich starb, erfahren die Geschwister nie.
Rotraut Becker erinnert sich an den Tag, als sie die Todesnachricht erhielt: "Man hat damals so viel Schreckliches erlebt. Wirkliche Trauer konnte ich damals gar nicht mehr empfinden. Das ist alles erst im Nachhinein aufgekommen." Nach dem Verlust der Mutter kommen die sieben Kinder, die zwischen einem und elf Jahre alt sind, zunächst in das Kinderheim im Gutshaus Klein-Roge westlich von Güstrow, später in ein Heim, das im Schloss Bellin südlich von Güstrow eingerichtet wird.
Katastrophale Zustände in den Heimen
Insgesamt entstehen in Mecklenburg-Vorpommern nach dem Krieg in kurzer Zeit 121 Kinderheime, viele von ihnen in ehemaligen Gutshäusern. Die Zustände in den überfüllten Heimen sind schlimm: Es fehlt an Sanitäranlagen, an sauberen Betten, an frischer Wäsche. "Die Kleidung, die man hatte, die hatte man an. Die wurde so lange getragen, bis sie einem vom Leib gefallen ist", erinnert sich Hubert Markgraf an die Zeit in Bellin.
Die katastrophalen hygienischen Verhältnisse begünstigen Krankheiten: Viele Kinder bekommen die Krätze, andere erkranken gar an Typhus. Manche Kinder überleben die Zustände nicht: "Den einen Morgen komme ich runter in die Vorhalle, da stehen dort zwölf Särge. Da sind also in einer Nacht zwölf Kinder verstorben", erinnert sich Markgraf.
Mit den desaströsen Umständen ist auch das Personal überfordert. Manch Angestellte, wie etwa die in einer Akte der Kontrollbehörden erwähnte Schwester Friedel, greift zu drakonischen Strafen, etwa für das Bettnässen. Sie schlägt die Kinder, lässt sie stundenlang vor dem Bett stehen.
Das Waisenheim Sanitz: "Den Kindern ein Zuhause geben"
Doch es gibt auch Heime, die den Kindern zu einem echten Zuhause werden. So baut Pastor Gerhard Schmidt in Sanitz bei Rostock mit Unterstützung seiner Gemeinde ein Heim für über 40 Waisenkinder. Die Dorfbewohner helfen, wo sie können: Ein Gärtner entglast sein Treibhaus, um das Glas für die Fenster des Heims zu spenden, Bauern liefern aus ihren Wäldern Holz für Dachstuhl und Treppen. "Es geschah damals so etwas wie ein Wunder. Es hat keiner mehr gefroren, keiner hat mehr gehungert. Das Bestreben war, den Kindern das Gefühl eines Zuhauses zu geben", erinnert sich Jörn Michael Schmidt, der Sohn des Pastors.
Das Heim besteht bis 1959, viele Kinder von damals bleiben auch als Erwachsene in der Nähe des Dorfes, heiraten Kinder von Dorfbewohnern. Ein neues Zuhause haben sie gefunden. Doch die schmerzliche Erinnerung an Krieg, Flucht und den Verlust der Eltern bleibt. Bis heute fällt es vielen Kriegswaisen schwer, über das Erlebte zu reden. "Irgendwie haben wir das alles verdrängt. Das hat so wehgetan, dass man darüber einfach nicht sprechen konnte", erklärt Rotraut Becker.