"Man darf 'Mein Kampf' nicht überschätzen"
Am 1. Januar 2016 sind die Urheberrechte an Adolf Hitlers "Mein Kampf" erloschen. Nun kann jeder Verlag in Deutschland das Buch nachdrucken. Nicht nur Historiker raten zur Gelassenheit.
"Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint!"
So beginnt das Buch "Mein Kampf" von Adolf Hitler, das er 1924 während seiner Festunghaft in Landsberg zu schreiben begann. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden mehr als zwölf Millionen Exemplare gedruckt und unters Volk gebracht. Nach 1945 war es für Verlage nicht möglich, das Buch nachzudrucken. Doch Anfang Januar hat sich die Lage grundlegend geändert: Mit dem Ablauf des Jahres 2015 - also 70 Jahre nach dem Tod des Diktators - sind die Urheberrechte erloschen, die beim Freistaat Bayern lagen. Dieser nutzte die Rechte in der Vergangenheit, um Nachdrucke in Deutschland - und mitunter auch im Ausland - zu verhindern. Noch ist unklar, ob ein Verlag hierzulande das Buch nachdrucken wird. Die Bayrische Landesregierung hat schon angekündigt, man werde versuchen, etwaige unkommentierte Neuauflagen von "Mein Kampf" mit strafrechtlichen Mitteln zu verhindern - aus Respekt vor den Opfern des Nationalsozialismus.
Kommentierte Fassung kommt schmucklos daher
Auf jeden Fall gibt es nun eine ganz besondere Ausgabe von "Mein Kampf": eine von Historikern erstellte "kritische Edition". Das etwa 2.000 Seiten starke Werk "ordnet die historischen Fakten ein, erklärt den Entstehungskontext, legt Hitlers gedankliche Vorläufer offen und kontrastiert seine Ideen und Behauptungen mit den Ergebnissen der modernen Forschung", teilt das federführende Institut für Zeitgeschichte München mit. Drei Jahre lang schrieben Experten an dem Werk.
Vorfreude bei den Neonazis?
So mancher befürchtet, ein unkommentierter Neudruck von "Mein Kampf" könnte den Rechtsextremisten in die Hände spielen. Doch Kenner der rechten Szene raten zur Gelassenheit. "Die Erlöschung der Urheberrechte wird in der einschlägigen Szene kaum beachtet", weiß Stefan Schölermann von NDR Info. "Bis auf ein paar Kommentare von Hardcore-Nazis in rechtsextremen Foren ist kaum etwas von Auseinandersetzung mit dem Thema wahrzunehmen." Der Grund liege auf der Hand: Wer das Buch unbedingt haben wollte, habe es sich längst besorgt. Schließlich sei der vollständige Text auch ohne große Mühe im Internet zu finden. "Die Wenigsten aber dürften das Machwerk tatsächlich durchgelesen haben", meint Schölermann. "Mit zusammenhängenden Texten haben ohnehin viele von denen Probleme. Die verkorkste Sprache tut ihr Übriges, die 'Mein Kampf -Lektüre' zu einem quälenden Geduldsspiel werden zu lassen."
Nur der Nachdruck war nach 1945 verboten
Adolf Hitlers Buch "Mein Kampf" ist - anders als weithin angenommen - in der Bundesrepublik nie verboten gewesen. Der Bundesgerichtshof entschied 1979, dass der Besitz, Kauf und Verkauf antiquarischer Exemplare des Buches in Deutschland nicht strafbar sind. Allerdings war der Neudruck des Buches nach dem Urheberrecht unzulässig. Da Hitler bis zu seinem Tod seinen offiziellen Wohnsitz in München hatte, wurde sein Vermögen von der amerikanischen Militärregierung beschlagnahmt. Dazu gehörten auch seine immateriellen Werte wie die Urheberrechte. Später gingen die Rechte an den Freistaat Bayern über. In Großbritannien und den USA durfte das Buch weiterhin gedruckt werden, weil der Münchener Eher-Verlag - in dem "Mein Kampf" ursprünglich erschien - in den 1930er-Jahren die englischsprachigen Rechte verkauft hatte.
"Es ist ekelhaft zu lesen"
Nun ist auch in Deutschland der Weg frei für Neuauflagen von "Mein Kampf". Hitlers Buch ist - so sieht es das Institut für Zeitgeschichte - "Autobiografie, ideologisches Programm, Parteigeschichte, Hetzschrift und Anleitung zur Erringung der Macht in einem". Der gebürtige Österreicher entwickelte darin unter anderem seine menschenverachtende "Rassentheorie". Und er schildert, wie er während seiner Zeit in Wien vor dem Ersten Weltkrieg zum glühenden Antisemiten wird. "Die Passagen über den Judenhass sind ekelhaft zu lesen", sagt Axel Schildt, Direktor der Forschungsstellte für Zeitgeschichte in Hamburg. "Es steht nicht drin: 'Wir müssen Millionen Juden ermorden.' Aber Hitler macht seine Sicht deutlich: Ein Volk, das sich der Juden nicht entledige, werde untergehen", fasst Schildt zusammen.
"Man darf das Buch nicht überschätzen"
"Das Buch ist nicht nur ein wirres Geschreibsel", meint Schildt. "Es drückt aus, was damals viele im völkischen und nationalsozialistischen Lager gedacht haben. Aber man darf das Buch auch nicht überschätzen. Es ist nicht die Blaupause für alles, was ab 1933 passiert ist. Und die NSDAP ist nicht wegen 'Mein Kampf' an die Macht gekommen", sagt der Hamburger Historiker. Hitlers eigentliche Stärke sei der mündliche Vortrag gewesen. "Mit seinen Reden hat er die Leute für sich eingenommen", so Schildt.
Wurde in Nazi-Deutschland "Mein Kampf" gelesen?
Lange Zeit herrschte die Vorstellung vor, die Deutschen hätten das Buch zwar im Schrank stehen gehabt, aber nicht gelesen." Das stimmt so wohl nicht", sagt Schildt. "Es ist kein unbekanntes Buch gewesen. Bis zur Machtergreifung 1933 wurden 300.000 Exemplare verkauft. Das ist beachtlich. Heute würde man von einem Bestseller sprechen." Zunächst war Hitlers Buch aber alles andere als ein Verkaufschlager. Der erste Band erschien im Juli 1925, der zweite folgte im Dezember 1926. Ab 1928 gab es eine bibelähnliche "Volksausgabe", in der beide Teile zusammengefasst waren. Erst mit dem Erfolg der NSDAP bei der Reichtagswahl 1930 stiegen die Verkaufszahlen. Von der einbändigen Volksausgabe wurden bis zur "Machtergreifung" Januar 1933 knapp 300.000 Exemplare verkauft. Bis 1945 wurden mehr als zwölf Millionen Exemplare verkauft - oder verschenkt, beispielsweise an Brautpaare auf dem Standesamt. "Hitler hätte allein mit den Tantiemen als reicher Mann leben können - er erhielt zehn Prozent", sagt Schildt.
Manche Buchhändler scheuen sich
Viele heutigen Buchhändler sind unsicher, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollen. Selbst von der kommentierten Neuausgabe von "Mein Kampf" wollen viele die Finger lassen. "Wir beraten die Buchhändler", sagt Thomas Koch vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels auf Anfrage von NDR.de. "Aber wir sagen auch: Jeder kann mit dem Buch umgehen, wie er es für am besten hält." Manche Geschäfte würden einige Exemplare der kommentierten Ausgabe bestellen und sie im hinteren Bereich anbieten. Andere Buchhändler würden das Buch nur auf ausdrücklichen Wunsch von Kunden bestellen.
Lohnt sich die Lektüre?
"Es gibt viele Stellen, die man mal gelesen haben sollte", meint Historiker Schildt, der mit seinen Studierenden an der Universität Hamburg Ausschnitte aus dem Original-Buch bespricht. Schließlich gilt "Mein Kampf" als eine zentrale Quelle des Nationalsozialismus. "Aber ich empfehle es nicht zur Lektüre - nach dem Motto: Ich lese das jetzt und weiß dann Bescheid, wie Hitler getickt hat. Quasi als Selbststudium. Dann sollte man lieber die kommentierte Fassung in die Hand nehmen." Schildt kritisert, dass die kommentierte Fassung viel zu spät komme. "Es wäre hilfreich gewesen, wenn solch eine Ausgabe, die den Text einordnet und auch aufzeigt, wo er auf Lügengeschichten beruht, schon vor 30 Jahren vorgelegen hätte", sagt der Historiker im Gespräch mit NDR.de. Aber der Freistaat Bayern habe solche Forschungsprojekte leider immer verhindert - bis er vor ein paar Jahren doch seine Genehmigung für eine Historiker-Edition gab.
Jedoch stieg Bayern Anfang 2014 wieder aus dem Projekt aus, nachdem Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) Israel besucht hatte. Für viele Israelis und KZ-Überlebende ist der Gedanke unerträglich, dass das Buch "Mein Kampf" wieder im deutschen Buchhandel erhältlich sein wird.