Brandanschlag: "Das lässt mich nicht mehr los"
Zehn Menschen sterben in der Nacht auf den 18. Januar 1996 bei einem Brand im Asylbewerberheim in der Lübecker Hafenstraße. 20 Jahre später erinnert sich der damalige Bürgermeister Michael Bouteiller.
Lodernde Flammen steigen in den Nachthimmel, verzweifelte Menschen springen in Todesangst aus den Fenstern. Es ist der 18. Januar 1996, als um 3.42 Uhr bei der Lübecker Feuerwehr ein Alarmruf eingeht. Es brennt in der Hafenstraße 52. Drei Minuten später ist die Feuerwehr vor Ort. Die Einsatzkräfte sehen schreiende und weinende Menschen auf dem Dach und an den Fenstern des brennenden Hauses. Es sind Asylbewerber aus Afrika und Arabien. Zehn Menschen sterben, darunter sieben Kinder. 38 Menschen werden teilweise schwer verletzt.
Wenn Bilder unter die Haut gehen
Die Bilder dieser Brandkatastrophe vergisst Michael Bouteiller wohl nie. Er war von 1988 bis 2000 Bürgermeister von Lübeck. "Das lässt mich nicht mehr los", sagt der heute 72-Jährige. "Jetzt, 20 Jahre danach, kommt alles wieder hoch."
Er wird damals nicht von der Feuerwehr informiert, sondern von einem NDR Reporter. Bouteiller eilt von seiner Wohnung an der Obertrave sofort zur Hafenstraße. Sein erster Gedanke, als er ankommt: "Schrecklich! Was passiert hier gerade in unserer Stadt?" Nur acht Monate zuvor hat es einen Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge gegeben. Und im März 1994 ist schon einmal ein Brandsatz auf die Synagoge geworfen worden. Vier junge Männer aus dem rechtsradikalen Milieu wurden dafür verurteilt. Bürgermeister Bouteiller befürchtet bei dem Brand in der Hafenstraße, dass die Täter wieder aus der rechten Szene kommen.
"Sie haben Schutz gesucht und fanden den Tod"
"Als ich ankam, stand da ein Feuerwehrwagen mit einer Leiter", erzählt Bouteiller. Das aus der Reserve geholte Fahrzeug sei museumsreif gewesen. Die aus dem brennenden Haus geretteten Menschen hätten sich in einem bereitgestellten Bus aufgewärmt, "weil es unglaublich kalt war in der Januarnacht", schildert der damalige Bürgermeister die Situation. Bouteiller hatte die Asylunterkunft zuvor schon einmal besucht - und kannte einige Bewohner. "Eine Frau saß in dem Bus und weinte. Sie hatte sich beim Sprung aus dem Fenster die Achillessehne gerissen." Er habe sie dann einfach in den Arm genommen. "Wir haben beide geweint", erinnert sich der gelernte Jurist. "Ich habe als Mensch reagiert. So bin ich nun mal." Die Stadt sei verantwortlich für das Haus und die Bewohner gewesen. "In meiner Stadt hatten die Flüchtlinge Schutz gesucht, jetzt fanden sie hier den Tod."
Der weinende Bürgermeister von Lübeck
Ein Kameramann filmt die Szene. Das Bild vom weinenden Bürgermeister geht deutschlandweit durch die Medien. Kritik wird laut. Darf ein Bürgermeister Gefühle zeigen? Michael Bouteiller hat diese Fragestellung nicht geärgert. "Ich habe mir nur gedacht: Was denken sich die Menschen eigentlich? Wo bleibt ihre Empathie?" Bei einer Pressekonferenz wird er damals wütend: Er haut mit der Faust auf den Tisch und spricht in die Mikrofone der Journalisten: "Mir ist zum Heulen zumute und sonst gar nichts! Ich finde, dieses ganze gestanzte Formulieren geht einem wirklich gegen die Birne! Wenn ihr heute Nacht da gewesen wärt und gesehen hättet, wie Menschen einfach geschrien haben, die runtergesprungen sind und Verwandte drumherum standen und eben ihrer Trauer Ausdruck gegeben haben, dann könnt ihr eigentlich nur heulen. Mir ist es im Augenblick völlig egal, ob da ein fremdenfeindlicher Hintergrund da ist oder nicht."
Einen Tag lang scheint der Fall geklärt
Die Brandkatastrophe in der Hafenstraße wird zu einem Politikum. Vertreter der Bundesanwaltschaft kommen nach Lübeck. Betroffenheit, Trauer, aber auch Wut und Empörung machen sich unter den Lübeckern und in ganz Deutschland breit. Wer war das? Bekommt Deutschland das Problem mit den Rechtsextremen in den Griff? Lübeck trauert - und demonstriert.
Schnell wird deutlich, dass es Brandstiftung war. Für einen Tag scheint der Fall gelöst, noch vor Abschluss der Untersuchungen: Am Morgen nach der Brandnacht hatte die Polizei vier junge Männer aus Grevesmühlen in Mecklenburg-Vorpommern festgenommen. Sie sollen der rechtsextremen Szene angehören. Zeugen sahen sie noch vor Eintreffen der Feuerwehr am Brandort, wie die Polizei mitteilt. Außerdem finden Gerichtsmediziner Brandspuren an ihren Augenbrauen und Haaren. Doch dann haben die jungen Männer plötzlich ein Alibi für die Tatzeit. Die Polizei muss sie freilassen.
Hausbewohner unter dringendem Tatverdacht
24 Stunden später macht ein Rettungssanitäter, der in der Brandnacht im Einsatz war, eine Aussage. Er habe gehört, wie ein Bewohner des Asylheimes sagte: "Wir waren es." Daraufhin nimmt die Polizei zwei Tage nach dem Feuer den Libanesen Safwan E. fest. Die Aussage des Sanitäters belastet ihn schwer.
Nach fünf Monaten in Untersuchungshaft wird Safwan E. wieder entlassen. Die Ermittler und die Staatsanwaltschaft können weder einen hinreichenden Tatverdacht noch ein plausibles Motiv aufzeigen.
Hintergründe juristisch nicht geklärt
Dennoch wird Safwan E. angeklagt. Am 16. September 1996 beginnt der Prozess vor dem Landgericht Lübeck. Die Anklage der Staatsanwaltschaft stützt sich auf drei Säulen: das angebliche Geständnis von Safwan E. gegenüber dem Sanitäter, die Gutachten von Landes- und Bundeskriminalamt sowie im Gefängnis abgehörte Gespräche zwischen E. und seinen Verwandten.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass das Feuer im ersten Obergeschoss ausbrach. Die Verteidigung dagegen spricht vom Brandherd im Erdgeschoss. Sie wirft der Staatsanwaltschaft Einseitigkeit und Schlamperei vor. Am 30. Juni 1997 endet der Prozess mit einem Freispruch für Safwan E. In dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten. Auch ein Revisionsverfahren vor dem Landgericht Kiel führt 1999 zum Freispruch.
Brandanschlag hat Lübeck und Bouteiller verändert
Der Brandanschlag in der Hafenstraße verändert die politische Kultur in Lübeck. Immer mehr Lübecker engagieren sich seitdem ehrenamtlich für Flüchtlinge. "Es ist eine Willkommenskultur entstanden. Das ist ganz wunderbar", freut sich der ehemalige Bürgermeister Bouteiller, der 2001 aus der SPD ausgetreten ist. Auch ihn selbst habe der Brandanschlag verändert. "Ich bin dadurch entschiedener geworden. Das war ich damals nicht." Damals wie heute bedauert Bouteiller, dass die Ermittlungsarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei sich stark auf den mutmaßlichen Täter aus dem Haus konzentriert habe. Deshalb sei er froh, dass die Prozesse mit einem Freispruch endeten.
Fast alle Überlebenden haben nach dem Brandanschlag ein Bleiberecht bekommen. Nur einer kämpft immer noch darum, in Deutschland bleiben zu können. Sie alle leiden weiterhin unter den Folgen des Anschlags. Als Bouteiller nach dem Brandanschlag Personaldokumente für Überlebende aus dem Haus ausstellen lässt, verhängt der damalige Innenminister Ekkehard Wienholtz (SPD) eine Disziplinarstrafe gegen ihn. Eine Zeit lang hat Bouteiller nach dem Prozess noch Kontakt zu Safwan E., heute nicht mehr.
Gedenkstein erinnert an die Opfer
Die Brandruine in der Hafenstraße wird 1997 abgerissen. Seit 2000 erinnert ein Gedenkstein an die Opfer des Brandanschlags. Dieser muss später einem Parkplatz weichen. Der Gedenkstein wird auf die andere Straßenseite der Konstinstraße verlegt. 2015 kommt eine Bronzetafel hinzu.
Für Lübecks ehemaligen Bürgermeister ist der Fall "Brandanschlag Hafenstraße" nicht abgeschlossen. Aber Bouteiller bezweifelt, dass der Fall neu aufgerollt werden kann. Zum 20. Jahrestag am Montag will er zur Gedenkfeier gehen - wie jedes Jahr. Da wird er alte Freunde wiedersehen.