Kindesmissbrauch: Ein Täter packt aus
"Boystown" war eines der größten pädokriminellen Darknetforen aller Zeiten. Bis zur Abschaltung durch Strafverfolger 2021 betrieb es Andreas G. vom Küchentisch aus. Panorama gab er ein Interview - im Gefängnis.
Die Zerschlagung der Plattform "Boystown" war ein bedeutender Erfolg für deutsche Strafverfolgungsbehörden. Über 400.000 Mitglieder hatten auf der Plattform Zugang zu pädokriminellen Inhalten - Bilder und Videos, die den Missbrauch von Kindern zeigten, vor allem von Jungs im Alter von vier bis 14 Jahren.
Eineinhalb Jahre war "Boystown" im Darknet erreichbar, ehe dem Bundeskriminalamt (BKA) und der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main 2021 der Durchbruch gelang. Sie ließen vier deutsche Männer festnehmen, darunter Andreas G., der als Administrator zum wichtigsten Akteur auf "Boystown" aufgestiegen war. Er wurde Ende 2022 zu zehn Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt mit anschließender Sicherungsverwahrung. Die Vorwürfe: bandenmäßiger Betrieb einer kinderpornografischen Plattform und schwerer sexueller Missbrauch von Kindern. Auch wenn G. vor Gericht ein umfassendes Geständnis abgelegt hat, gegen das Urteil hat er Revision eingelegt, weil er mit Strafmaß und Sicherungsverwahrung nicht einverstanden ist. Das Urteil ist somit noch nicht rechtskräftig.
Andreas G. gibt Interview im Gefängnis
Darknetforen wie "Boystown" sind in den vergangenen Jahren immer größer geworden. Täglich werden im Untergrund des Internets große Datenmengen an illegalen Daten getauscht - ein wachsendes Problem trotz einzelner Ermittlungserfolge in den vergangenen Jahren.
Nachdem Panorama und STRG_F in den vergangenen Jahren immer wieder über dieses Thema berichteten und dabei unter anderem mit Betroffenen, Strafverfolgungsbehörden, Juristen und Psychologen gesprochen hatten, entschied sich die Redaktion nach der Verurteilung von Andreas G. um ein Interview zu bitten. Er sagte zu. G. legte eine umfassende Lebensbeichte ab und gewährte Einblicke in Motive, Überzeugungen und Funktionsweisen pädokrimineller Internetforen, über die öffentlich bisher kaum etwas bekannt war.
"Wie ein Drogenhändler, der seinen Stoff braucht."
Andreas G. beschrieb, wie er in die Szene "reingerutscht" sei. Anfangs habe er nur zugeschaut, ohne sich zu beteiligen. "Ich habe mich erst mal nur angemeldet und geschaut, was da passiert. In den Foren wurde über alles Mögliche geredet, nicht nur über Kinderpornografie. Manchmal wurden auch einfach nur Witze gemacht, wie im normalen Leben." Heute sagt er: "Ich bereue, was ich getan habe, definitiv. Nicht für mich, sondern für die Kinder, meine Familie und alle, die durch meine Taten Schaden genommen haben."
Diese Reue kommt spät. Über Jahre hinweg war G. eine der Schlüsselfiguren der pädokriminellen Szene im Darknet, "Boystown" administrierte er vom Küchentisch. Er lebte zu dieser Zeit von Aushilfsjobs und wohnte bei seiner Mutter in einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen. "Man redet sich die Welt schön. Das Forum ist der einzige Ort, an dem man offen über seine Gedanken sprechen kann, wie ein Drogenabhängiger, der seinen Stoff braucht", sagt er. Für viele Pädokriminelle seien diese Foren eine Möglichkeit, sich auszutauschen und ihre Taten zu rechtfertigen. "Man redet sich ein, dass die Kinder das auch wollen."
Pädokriminelle Gemeinschaft: Das Forum als Rückzugsort
"Boystown" war auf den ersten Blick ein Forum im Stil der 90er Jahre. Doch die Kategorien und Inhalte offenbarten die dunkle Seite: Unterkategorien wie "Hardcore", "Kindergarten" oder "Non Nude" enthielten Bilder und Videos von Kindern, produziert durch schweren Missbrauch, aber auch gestohlen aus sozialen Netzwerken wie Instagram. Im Forum beschrieben Nutzer detailliert, wie sie gezielt Orte wie Saunen oder Schwimmbäder aufsuchten, um Jungen zu beobachten. "Wir sind extra in die Familiensauna gefahren, um kleine Boys zu treffen", schrieb ein Nutzer.
Andreas G., der sich im Forum "Phantom" nannte, übernahm nach kurzer Zeit eine führende Rolle. Er stellte neue Regeln auf, darunter die Vorgabe, dass nur Bilder von Jungen im Alter von vier bis 14 Jahren erlaubt seien. Für ihn sei sein Job aufgrund der Größe des Forums schnell wie die Leitung eines Unternehmens gewesen. "Es gab Urlaubsvertretungen, Abmeldungen und Krankenscheine. Das musste alles organisiert werden." Das Forum funktionierte nicht durch finanzielle Transaktionen, sondern durch Anerkennung innerhalb der Gemeinschaft. Nutzer, die besonders "wertvolles" Material posteten, erhielten Lob und Auszeichnungen.
Hinter jedem Foto steckt menschliches Leid
Was Andreas G. und die übrigen Nutzer auf "Boystown" ausblendeten: Hinter fast jeder Darstellung steckt sexualisierte Gewalt an Kindern. Panorama hat mit dem Betroffenen Lukas Jansen (Name geändert) über seine eigenen Erfahrungen gesprochen und die Aussagen von Andreas G. diskutiert. Jansen erlebte spätestens ab seinem vierten Lebensjahr Übergriffe in der eigenen Familie, schnell auch von Bekannten der Familie. Aufnahmen davon landeten wohl im Netz.
Damit wurde er dann unter Druck gesetzt. Es habe dann geheißen: "Vergiss nie, dass wir dich auf Film haben. Wenn du irgendwann auf dumme Gedanken kommst, dann haben wir ja die Filme und dann schicken wir die an alle, die dich mögen, und danach wissen die, was für ein perverses, verkommenes Stück Dreck du bist." Die Erpressung funktionierte. "Das merkt man sich als Kind. Das merkt man sich gut", sagt Jansen. Erst, als er fast erwachsen war, konnte er von zu Hause an einen sicheren Ort flüchten.
Regeln zeigen verzerrtes Weltbild der Foren
Andreas G. hielt sich selbst stets zugute, Regeln auf "Boystown" eingeführt zu haben, sodass beispielsweise Aufnahmen von Kindern im Alter von null bis drei verboten waren. Auch "Gewalt" gegen Kinder habe er als Administrator nicht geduldet. Noch im Interview sagte er: "Gewalt gegen Kinder wäre für mich nie in Frage gekommen." Erst als die Reporter von Panorama ihn im Interview fragten, ob es nicht zynisch sei, den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern nicht als Gewaltakt zu bezeichnen, sagte er, das sei "nicht in Ordnung", doch das sei ihm "lange Zeit nicht klar" gewesen, "weil man wie in einem Tunnel ist und man sich das Ganze halt schönredet."
G. sagte, eine der wichtigsten Rechtfertigungen innerhalb dieser pädokriminellen Foren sei es, dass ohne die Foren mehr sexuelle Übergriffe im realen Leben stattfänden. Auch er wiederholte dies im Interview: "Ich bin der Ansicht, dass ohne diese Foren noch viel schlimmere Sachen passieren, weil die Leute sich nicht abreagieren können."
Eine kaum haltbare These, wie Andrea Güde von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main erklärte. Die Staatsanwältin bei der dortigen Zentralstelle zur Bekämpfung der Computer- und Internetkriminalität war Sitzungsvertreterin im "Boystown"-Prozess. "Wir sind ja denkende Wesen und unabhängig von unserer Neigung sind wir in der Lage, uns da auch Grenzen zu stecken. Die Schaffung eines kinderpornografischen Boards, das alleine dem Austausch von kinderpornografischen Inhalten dient, ist sicherlich nicht der richtige Ansatzpunkt. Dass alle sich da anschließen, um nicht im realen Leben ein Kind zu missbrauchen, das kann ich so nicht nachvollziehen."
Festnahme sei "Erleichterung" gewesen
Die Ermittlungsbehörden waren Andreas G. letztlich durch Aussagen in Chats auf die Schliche gekommen. Ein zusätzlicher Tipp einer ausländischen Strafverfolgungsbehörde führte zur Überwachung von Mobilfunkanschlüssen - darunter derjenige, mit dem G. "Boystown" betrieb. Ein Sondereinsatzkommando stürmte im April 2021 sein Haus, überwältigte ihn und nahm ihn fest. G. kooperierte und gab den Beamten Zugang zu all seinen Accounts und Passwörtern.
Rückblickend beschreibt Andreas G. den Moment seiner Verhaftung als "Erleichterung, mehr als alles andere. Jetzt ist es raus. Das ist schlimm, aber nichts, was ich verstecken muss. Es ist kein Geheimnis mehr." Wenn das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main Bestand haben wird, wird G. nie mehr in Freiheit leben.