Tabuthema: Auch Frauen missbrauchen Kinder
Sexualisierte Gewalt an Kindern ist noch immer ein Tabuthema. Besonders wenn Frauen die Täterinnen sind. Doch das passiert viel häufiger als man denkt.
Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen, das Strafgesetzbuch spricht von Kindesmissbrauch, ist in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabuthema. Vielen Menschen fällt es schwer, sich damit auseinander zu setzen. Besonders dann, wenn der Täter kein Mann, sondern eine Frau ist: Die Mutter, die Tante, die Schwimmtrainerin. Und das passiert viel häufiger als man denkt.
Höllenqualen statt liebevoller Fürsorge
Wenn Michael Reh über das spricht, was ihm seine Tante als kleiner Junge angetan hat, dann holt er erst einmal tief Luft und drückt den Rücken durch. "Ich war viereinhalb Jahre, als der Missbrauch anfing, und er hat sich über acht Jahre hingezogen." Der heute 60-Jährige wirkt selbstbewusst und reflektiert, wenn er über das erlittene Leid spricht. Er wuchs auf im Ruhrgebiet, im Mief der 1960er-Jahre. Seine Eltern brachten ihn regelmäßig zur Tante, zum Beispiel, wenn sie ausgehen wollten. Doch statt liebevoller Fürsorge erlebte der kleine, blonde Junge mit den dunklen Augen Höllenqualen. "Von versuchter Masturbation bis Penetration mit Gegenständen - es war alles dabei. Sie hat mich auch zum Oralsex gezwungen, da war ich fünf Jahre alt." Michael Reh ist einer der wenigen Männer, die so offen über dieses Tabu sprechen: sexualisierte Gewalt an Kindern, begangen durch Frauen.
Frauen als Täterinnen unterschätzt
"Das Thema Täterinnen wurde bisher total unterschätzt, nicht nur gesellschaftlich, sondern auch in der Wissenschaft", sagt Safiye Tozdan. Die Sexualforscherin vom Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) befasst sich seit mehreren Jahren mit der Thematik. Die wenigen Studien, die es dazu gibt, deuten darauf hin, dass in bis zu 20% der Kindesmissbrauchsfälle eine Täterin verantwortlich ist. Safiye Tozdan hat mit Kolleginnen und Kollegen für ein bislang wenig beachtetes Forschungsprojekt Betroffene befragt, die von Frauen missbraucht worden sind. Demnach haben 90% der Befragten angegeben, dass sie die erlittenen Taten nicht zur Anzeige gebracht haben. "Meistens aus Angst, nicht ernst genommen zu werden", erklärt Tozdan die hohe Quote, die mit erklären könnte, warum Missbrauchstäterinnen z.B. in den Kriminalstatistiken der Polizei kaum vorkommen.
Auseinandersetzen, konfrontieren
Weil das Tabu offenbar so groß ist, hat die sexualisierte Gewalt, die die Befragten aus der UKE-Studie erleiden mussten, durchschnittlich sieben Jahre ungehindert angedauert. Bei Michael Reh waren es sogar acht. "Ich werde oft gefragt: warum hast Du denn nichts gesagt? Das ist so ein massiver Übergriff auf die Seele und den Körper eines Kindes, wie soll man das als 5-Jähriger verstehen, geschweige denn artikulieren können?" Bei ihm kam hinzu, dass die Täterin ihm drohte, sie werde ihn umbringen, sollte er etwas sagen. Meistens können Betroffene erst Jahrzehnte später über das Erlebte sprechen. Michael Reh hat die Erinnerung an die Taten über Jahre in sich "vereist", also abgekapselt.
Heute kann er dank mehrerer Therapien über das Tabu reden - das tut er auch, um anderen Betroffenen Mut zu machen. Mut, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und auch die Täterin und ihr Umfeld zu konfrontieren. Jahrzehnte später war sein Fall strafrechtlich schon verjährt. Deshalb rief Michael Reh seine Großfamilie zu einer Aussprache zusammen. Seine Tante nahm nicht teil, aber ihr Mann, Michaels Onkel. "Der sagt dann: du konntest doch gar keinen Sex mit ihr haben, du warst doch ein Kind. Da bin ich sehr emotional und sehr laut geworden und habe gesagt: Nein, ich hatte keinen Sex mit ihr! Sie hat es gemacht und ich erzähle euch jetzt genau, was sie gemacht hat." Irgendwann verstarb die Täterin. Zeit ihres Lebens wurde sie für den jahrelangen Missbrauch ihres Neffen niemals zur Verantwortung gezogen. Michael Reh hat mit der von ihm eingeforderten Aussprache das Tabu in der Familie gebrochen. Das zählt für ihn, denn so hat er sich von einer schweren Last befreit.
Warum werden Frauen Täterinnen?
Aber was bringt Frauen dazu, so etwas zu tun? Auch das ist noch wenig erforscht. "Wir gehen davon aus, dass es ähnlich wie bei Männern unterschiedliche Motive gibt", sagt Sexualforscherin Tozdan. "Es kann ein sexuelles Interesse an Kindern sein, aber in vielen Fällen geht es auch um Macht und Kontrolle. Oder um das Bedürfnis nach Nähe, die Täter:innen mit Gleichaltrigen nicht hinbekommen."
Diese Unkenntnis von der weiblichen Täterschaft hat fatale Folgen, etwa bei Polizei und Gerichten. "Wenn es um die Vermutung geht, ein Kind könnte sexualisierte Gewalt erlitten haben, ist der automatische Fokus aller Beteiligten auf Männer gerichtet", erklärt Julia von Weiler. Die renommierte Psychologin betreut seit 30 Jahren betroffene Mädchen und Jungen. "Die Frau gilt immer als potenzielle Beschützerin. Dieses Denken führt zu einem großen, blinden Fleck", so Weiler. So würden von Strafverfolgern und Gerichten sexualisierte Gewalthandlungen durch Frauen häufig uminterpretiert. Das bestätigt auch Safiye Tozdan: "Dann heißt es: na ja, der bekommt halt etwas beigebracht - es wird einfach verharmlost."
Oftmals ist es sowohl für Betroffene als auch für Angehörige schwierig, den Missbrauch zu erkennen. "Mütter zum Beispiel kümmern sich oft um die Körperpflege und bringen die Kinder ins Bett. Da bieten sich natürlich Gelegenheiten", skizziert Wissenschaftlerin Tozdan das Unvorstellbare. Doch gerade das komme laut den Betroffenen besonders häufig vor: in 62% der Fälle war die Täterin die eigene Mutter. Michael Reh erstaunt das nicht mehr: "Ich habe selber schon mit so vielen Betroffenen gesprochen: Die Scham ist nach wie vor riesig. Es wird Zeit, dass unsere Gesellschaft - Strafverfolger, Justiz und auch das Hilfesystem - endlich anerkennt: jede fünfte Tat - das war und ist eine Frau!"