Jörg Kachelmann: Verurteilt trotz Freispruch
"Da war doch was." Das ist die Antwort, die man nicht selten bekommt, wenn man Menschen auf der Straße danach fragt, was ihnen alles spontan zu Jörg Kachelmann einfällt. "Den haben Sie abgesägt, der soll vergewaltigt haben", hört man da. Und: "Meine Meinung ist, dass er schuldig ist." Eine Meinung zum Fall Kachelmann scheint jeder zu haben: "So intuitiv hab ich so das Gefühl, dass da auch so ein bisschen Wahrheit dran war, aber das ist jetzt so ein Bauchgefühl."
Jörg Kachelmann kämpft gegen dieses Bauchgefühl. Vor allem aber kämpft er gegen die Lüge, die außer seiner Ex-Freundin auch Richter, Staatsanwälte und Medien verbreiteten. Doch kaum jemand interessiert sich noch für die Wahrheit.
Privatleben öffentlich ausgeschlachtet
Der Reihe nach: Der ehemalige ARD-Wettermoderator wird Anfang 2010 verhaftet, seine Ex-Freundin Claudia D. hatte ihn wegen Vergewaltigung angezeigt, und er bleibt mehr als vier Monate in Untersuchungshaft. Schon vor Prozessbeginn gelangen Verfahrensakten an die Presse, monatelang spekulieren Journalisten über ein vermeintliches "Tatmesser", einen "Tatort", DNA-Spuren. Kachelmanns Privatleben wird zum öffentlichen Gut, etwa, dass er zahlreiche Geliebte gehabt haben soll - alles unter dem Vorwand der "Tataufklärung".
Im Prozess verstrickt sich Claudia D. in Widersprüche, kein rechtsmedizinisches Gutachten bestätigt eine Vergewaltigung. Doch für die Mannheimer Staatsanwaltschaft steht Kachelmanns Schuld trotz der dünnen Beweislage bis zum Ende fest. Im Mai 2011 verkündet das Landgericht Mannheim zwar seinen Freispruch. In der Urteilsbegründung treten die Richter aber nach: "Der heutige Freispruch beruht nicht darauf, dass die Kammer von der Unschuld von Herrn Kachelmann (...) überzeugt ist." Die mediale Wirkung bleibt nicht aus: "Bild" titelt am Tag danach: "Freispruch, aber."
Freigesprochen - doch Zweifel werden gestreut
Immer wieder sorgen Justiz und Medien anschließend dafür, dass die Zweifel an Kachelmanns Unschuld am Leben gehalten werden. So sagt etwa der Sprecher der Mannheimer Staatsanwaltschaft noch nach dem Freispruch in eine Fernsehkamera: "Das Gericht hat ganz klar betont: Die These der Verteidigung, dass die Nebenklägerin alles erfunden hat, um Herrn Kachelmann fertig zu machen, hat sich genauso wenig nachweisen lassen." Dabei war diese Behauptung falsch. Genau diese These hätte sich nachweisen lassen.
"Kein Mitglied der Justiz gibt gerne zu, dass es Fehler gemacht hat", sagt der ehemalige Richter Heinrich Gehrke. "Weder ein Staatsanwalt noch ein Richter korrigieren sich gern." Der Strafrechtler war jahrelang am Landgericht Frankfurt mit Prozessen befasst, die unter besonderer Beobachtung der Öffentlichkeit standen. Er regt sich noch heute auf über das Versagen der Justiz im Fall Kachelmann. "Gegen so einen vergifteten Freispruch kann man als Betroffener nichts machen", betont er. "Gegen eine Verurteilung kann man Rechtsmittel einlegen - aber gegen einen Freispruch?"
"Bild" muss zahlen - und legt Beschwerde ein
Kachelmann bleibt so nur die Möglichkeit, die Lüge selbst aus der Welt zu schaffen. "Alle haben mir geraten: Jetzt musst du Ruhe geben, sei doch froh", sagt er im Panorama-Interview. "Das war für mich kein gangbarer Weg, ich wollte kämpfen." Er verklagt zahlreiche Medien, die falsch berichteten oder seine Privatsphäre verletzten; wehrt sich auch gegen Privatleute, die ihn in sozialen Medien als "Vergewaltiger" oder "Frauenhasser" beleidigen. Ein Gericht spricht ihm schließlich die Rekord-Entschädigungssumme von 395.000 Euro zu, weil Artikel in "Bild", "Bild am Sonntag" und auf "bild.de" seine Persönlichkeitsrechte verletzt hatten.
Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig, der Springer Verlag hat Beschwerde beim Bundesgerichtshof eingelegt. "Presseberichte können die Existenz eines Unschuldigen vernichten. Das belegt der Fall Kachelmann auf ganz erschreckende Weise", sagt Anwalt Ruben Engel von der Kanzlei Höcker, die Kachelmann vertritt. "Umso wichtiger war es, dass wir nicht nur Vorverurteilungen bekämpft haben, sondern auch aktuell gegen unzählige Nachverurteilungen vorgehen. Denn der Kampf um die Reputation von Herrn Kachelmann ist noch nicht zu Ende."
Kachelmann verklagt auch seine Ex-Freundin
Schließlich geht Kachelmann zivilrechtlich auch gegen das angebliche Opfer vor - formal wegen Gutachterkosten, die Claudia D. ihm erstatten sollte. Aber eigentlich geht es ihm um Gerechtigkeit. Der Fall wird daraufhin am Oberlandesgericht Frankfurt (OLG) noch einmal aufgerollt. Die Beweisaufnahme wird wiederholt, beide Parteien angehört. Zudem holen die Richter ein eigenes rechtsmedizinisches Gutachten ein, das die 2010 festgestellten Verletzungen von Claudia D. prüft. Im Herbst 2016 verkündet der Senat schließlich mit ungewöhnlicher Deutlichkeit: das vermeintliche Opfer hat Kachelmann "vorsätzlich wahrheitswidrig der Vergewaltigung bezichtigt" und sich "die Verletzungen selbst zugefügt". Ein später, "echter" Freispruch. Doch im Vergleich zum Strafprozess 2011 ist nun kaum noch Presse im Saal.
Claudia D. kann die Entscheidung nicht anfechten. Im Gericht verliest sie wütend eine vorbereitete Erklärung: "Man will uns Frauen stumm schalten, damit das gesellschaftliche Machtgefüge im männerbündischen Täterstaat Deutschland nicht in Gefahr gerät." Noch heute verschickt sie auf Presseanfragen diese Worte als Stellungnahme. Soll man einen Unschuldigen verurteilen, damit echte Opfer nicht mutlos werden? "Das ist ein Zynismus, den ich nicht nachvollziehen kann", sagt Kachelmann dazu.
Falsche Behauptungen der Mannheimer Staatsanwaltschaft
Durch das Urteil kann Kachelmann schließlich sogar Ermittlungen wegen schwerer Freiheitsberaubung gegen Claudia D. erwirken. Wieder ist zunächst die Staatsanwaltschaft Mannheim zuständig, dieselbe Behörde, die vor fünf Jahren so trotzig gegen ihn ermittelt hatte. Sie stellt die Ermittlungen gegen seine Ex-Geliebte nach wenigen Monaten erstmal wieder ein: Weil ein "hinreichender Tatverdacht" nicht begründet werden kann - und das trotz der eindeutigen Faktenlage. Kachelmann legt auch hier Beschwerde ein, die prüft nun der Generalstaatsanwalt.
Die Mannheimer Staatsanwaltschaft ist es auch, die selbst mehr als ein Jahr nach dem Freispruch auf eine Presseanfrage antwortet, dass "am Griff des Messers DNA-Spuren festgestellt wurden, die von einer männlichen Person stammen und die mit der DNA-Typisierung des Herrn Kachelmann übereinstimmen." Eine Behauptung, die sich schon während der Ermittlungen als falsch herausgestellt hatte.
Kachelmann geht auch dagegen vor. Im Juli 2017 wird die Frage der vermeintlichen DNA-Spuren am Messer von einem Gericht geklärt. Die Richter befinden, dass die falsche Aussage der Staatsanwälte dazu führt, dass der Vorwurf der Vergewaltigung weiterhin an Kachelmann haften bleibt. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft unterzeichnet daraufhin eine Unterlassungserklärung.
Öffentliches Interesse gering
Eine Staatsanwaltschaft muss per Gerichtsbeschluss gezwungen werden, falsche Beschuldigungen zu unterlassen. Doch mittlerweile interessiert sich fast niemand mehr für die Wahrheit im Fall Kachelmann. Es herrscht gähnende Leere im Gerichtssaal. Der Ausgang der Verhandlung wird allenfalls klein vermeldet, manche Medien berichten gar mit der Titelzeile: "Kachelmann: keine DNA am Tatmesser" - obwohl es doch gar keine Tat gegeben hat.
Und so haftet an Kachelmann in der Öffentlichkeit weiter der Verdacht, ein "Vielleicht-Doch-Vergewaltiger" zu sein. Das zeigt auch eine Infratest dimap-Umfrage im Auftrag von Panorama. Auf die Frage: "Wenn Sie den Namen 'Jörg Kachelmann' hören, was alles fällt Ihnen da spontan ein?", antwortet mehr als die Hälfte der Befragten "Wetter", "Meteorologe" oder "Fernsehmann". Rund ein Drittel der Befragten denkt allerdings auch an negative Dinge: An "Vergewaltigung", "Missbrauchs-Prozess", "Sex-Skandal" oder "Frauengeschichten".
Die ARD schweigt beharrlich
Auch die ARD beschäftigt ihn nach dem Freispruch nicht mehr als Wettermoderator. "Das war sehr, sehr schwer auszuhalten, dass nach den vielen Jahren, die ich für die ARD gearbeitet habe, sich niemand auch nur mal gemeldet hat", sagt Kachelmann.
Der ehemalige Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert hat den Wettermann jahrelang angekündigt, er kennt nicht nur ihn - sondern auch den Sender gut. "Ich vermute, dass die Entscheidung, ihn nicht mehr einzusetzen, getragen wurde von der Überlegung: Was denken die Zuschauer, wenn sie Kachelmann wiedersehen?", sagt Wickert. "Werden sie dann nicht wieder an den ganzen Prozess erinnert? Ist all das in der Erinnerung nicht etwas, was dann seine Aussagen über das Wetter verdeckt?"
Keine Werbedeals für Kachelmann
Ein Dilemma, das offenbar nicht nur die ehemaligen Geschäftspartner empfinden. "Es hat auch immer wieder Gespräche mit Firmen gegeben, die Werbung mit mir machen wollten", sagt Kachelmann. "Nach dem Motto: Warum denn nicht?" Doch die Verhandlungen seien nie zum Abschluss gekommen. "Der Marketing-Direktor war stets noch zutiefst überzeugt, aber ich bin dann immer spätestens im Vorstand gescheitert - vielleicht weil man gedacht hat: Was wird Frau Schwarzer in der Emma schreiben? Wird sie dann zu einem Boykott des Produkts aufrufen?" Kachelmann lacht. Es ist ein leicht bitteres Lachen.
"Ein nach dem Gesetz unschuldiger Mann hat Schwierigkeiten, wieder einen Job zu finden", sagt Strafrechtler Gehrke. "Was soll man von einer Justiz denn eigentlich halten, wenn sie so etwas ermöglicht?"