Sendedatum: 12.09.2024 21:45 Uhr

Kindesmissbrauch: Ein Täter packt aus (Manuskript)

Anmoderation Anja Reschke: "Es gibt kaum ein Verbrechen, das gesellschaftlich so geächtet wird, wie Pädokriminalität. Und trotz Ächtung anscheinend so verbreitet. Wenn man nur mal an die Schlagzeilen dazu denkt. Februar: Razzia gegen Kinderpornografie in Hessen - Hausdurchsuchung in Bayern. April: Polizei durchsucht 24 Wohnungen in Berlin - Hunderte Durchsuchungen im Norden. Juni: Bundesweite Großrazzia wegen Kinderpornografie. Juli: Kinderporno Razzia im Landkreis Kehlheim. August: Erneut Razzia in Sachsen-Anhalt. Und das ist nur eine willkürliche Auswahl aus den letzten Monaten. Trotz massiver polizeilicher Aktivität lässt sich Pädokriminalität anscheinend nicht eindämmen. Wie kann man das stoppen? Wie kann man das verändern? Vielleicht ist es hilfreich zu verstehen, was die Täter antreibt, warum sie das machen. Robert Bongen und Daniel Moßbrucker haben mit einem gesprochen, der eines der größten pädokriminiellen Darfknetforen aller Zeiten betrieben hat, bis er 2021 aufflog."

Es war ein spektakulärer Ermittlungserfolg, über den alle Medien berichteten:
"Ermittler haben eine der weltweit größten Kinderpornoplattformen im sogenannten Darknet gesprengt."
"Die Darknet-Plattform Boystown."
"Gegen die Plattform wurde seit Monaten international ermittelt. Sie hatte weltweit 400.000 Mitglieder."

Vier Männern wird der Prozess gemacht. Als Drahtzieher gilt er: Andreas G.. Er wird verurteilt wegen des bandenmäßigen Betriebs einer kinderpornografischen Plattform. Und: Wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern.  Über 10 Jahre Haft, mit anschließender Sicherungsverwahrung. "Boystown" - so der Name dieser "kinderpornografischen Plattform". Damals im Darknet, dem anonymen Teil des Internets. Boystown, Stadt der Jungen, der zynische Titel sagt es: Hier geht es um Jungs. Hundertausende Aufnahmen von schwerem sexuellen Missbrauch von Jungen wurden hier verbreitet, getauscht, runtergeladen. Hinter jeder Datei unfassbares Leid. Und Andreas G. war hier der Chef. Vor Gericht hat er alles gestanden. Aus Reue über die Taten? Oder wegen der erdrückenden Beweislast? Wir recherchieren schon seit langem zu Boystown. Haben mit Betroffenen gesprochen, mit Ermittlern, Experten - aber mit einem Täter noch nie. Wieso tut ein Mensch so etwas? Was könnte ihn stoppen? Wir versuchen, ein Interview mit Andreas G. zu bekommen. Hier in Frankfurt, in der JVA, sitzt er. Tatsächlich: Wochen später sagt er uns zu. Und auch das Gericht gibt sein Okay. Ein Interview im Knast.

Eingang: "So die Herren vom Fernsehen. Aber ich möchte trotzdem bitten. Einzeln. Ja, natürlich. Ein bisschen einfacher."          

Uns wird ein Raum zugeteilt, in dem normalerweise die Inhaftierten ihre Kinder treffen. Ein bizarrer Zufall. Andreas G. möchte nicht offen auftreten, aus Scham und aus Sorge, dass ihn Mithäftlinge erkennen. Wir haben ihn optisch verändert. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Andreas G. geht gegen das hohe Strafmaß vor, die Taten an sich bestreitet er aber nicht. Er gibt sich einsichtig.

O-Töne
Panorama: "Bereuen Sie, was Sie getan haben?"
Andreas G., Pädokrimineller (Stimme nachgesprochen): "Ja. Ja, definitiv. Und zwar nicht für mich, sondern für. Als allererstes die Jungs. Meine Familie und alle anderen auch, die Schaden dadurch genommen haben. Ich bereue das."

Reue sei auch der Grund, warum er das Interview gebe. Und: Er möchte sich für mehr Therapieplätze für Pädophile einsetzen. Pädophil war er schon immer. In die kriminelle Szene sei er vor einigen Jahren so reingerutscht. Bei Boystown habe er sich endlich ohne Angst vor Entdeckung austauschen können. Über alles Mögliche, aber vor allem: über Jungen.

Im Forum schrieben andere Nutzer etwa:
"Ich war mit einem Kumpel in einer öffentlichen Familiensauna. Wir sind mit der Absicht dahin gefahren, auf kleine Boys zu treffen."
"Es gibt geile Bäder mit Dampfsaunen. Da ist es nicht ganz so heiss. Da kommen die Kinder mit rein. Durch den Nebel kann man die Kleinen ganz nah bewundern."                   

Eines fällt uns im Forum der immer wieder auf: Der absurde Wunsch einer Rechtfertigung: Das Kind, es wolle es doch auch. Seit einigen Wochen besucht mich mein Patenkind regelmäßig. Wenn wir zocken macht er immer wieder "Andeutungen". Ich möchte irgendwie testen, ob er wirklich etwas "von mir will".

O-Töne
Panorama:
"Gehen Sie davon aus, dass alles das, was auf den Fotos, auf den Videos gezeigt ist, freiwillig passiert ist und die Kinder da freiwillig mitgemacht haben?"
Andreas G., ehem. "Boystown"-Chef (Stimme nachgesprochen): "Nicht alles. Das ist definitiv in 99,9 % der Fälle nicht so, das ist einem in dem Moment nicht bewusst. In dem Moment, in dem man in diesem Forum drin ist, versucht man sich selber die Welt schönzureden. Es ist der einzige Ort. Das müssen Sie sich so vorstellen, Sie sind drogenabhängig und es ist der einzige Ort, wo Sie Nachschub kriegen. Der einzige Ort, wo Sie hingehen können. Wo Sie offen zu einem sagen können: Du, ich hab da gestern Abend schlechte Gedanken gehabt, war ein Nachbarsjunge und hilf mir, oder... Einfach, einfach nochmal drüber reden und sich austauschen zu können."

Das Verlangen, Sex mit Kindern haben zu wollen. Befriedigt durch sexualisierte Gewalt.
Er war ein Opfer davon. Lukas Jansen. "Freiwillig" war hier nichts, die Erinnerung lässt ihn bis heute nicht los. Damals war er erst 4 Jahre alt, als seine Mutter und Bekannte ihn missbrauchten und alles aufnahmen.

O-Ton Lukas Jansen (Name geändert): "Da war die Kamera. Das ist uns noch gesagt worden. Wir nehmen das alles auf oder danach noch schlimmer. Wir haben das alles aufgenommen. Wir können beweisen, was du gemacht hast. Für die Erwachsenen war das nicht so schlimm, weil die meisten sich dann das Gesicht verdeckt haben. Oder die Kamera war so, dass klar war, dass man deren Gesichter nicht sieht. Sondern uns. Und wenn die was gemacht haben, dann haben die manchmal einem noch gezeigt, was sie aufgenommen haben: Guck mal, wir haben dich auf Film. Wenn du irgendwann auf den Gedanken kommst, dann haben wir ja die Filme und dann schicken wir die an alle, die dich mögen, und danach wissen die, was für… Was für ein perverses, verkommenes Stück Dreck du bist. Das merkt man sich als Kind. Das merkt man sich gut."

Lukas vermutet, dass viele dieser Bilder von ihm im Netz gelandet sind, in pädokriminellen Foren. Bei Boystown versuchte Andreas G, eine eigene Moral zu etablieren. Doch seine Regeln sind verräterisch. Etwa zur Frage, welche Bilder gepostet werden dürfen.

"REGEL #1: Nur Jungen von 4-14 Jahren erlaubt!
REGEL #2: Keine Gewalt. Keine Kleinkinder! Diese Extreme sind nichts für uns. Poste sie woanders."

O-Ton
Andreas G., Pädokrimineller (Stimme nachgesprochen):
"Es gibt so gewisse Grundsätze, über die verhandele ich nicht und über die diskutiere ich nicht. Das ist zum Beispiel, wenn Kindern Gewalt angetan wird und das gezeigt wird. Penetration von kleinen Babys. Geht gar nicht, geht überhaupt gar nicht."

O-Töne
Panorama:
"Können Sie verstehen, dass diese Binnenlogik für uns natürlich doch sehr zynisch klingt. Dass natürlich auch eine Penetration eines 8-jährigen Jungen ein Gewaltakt ist?"
Andreas G., ehem. "Boystown"-Chef (Stimme nachgesprochen): "Nicht in Ordnung ist… Aber sie müssen. Sie müssen sich das nicht aus der Situation, wie ich es jetzt sehe, oder wie ich jetzt, nachdem ich das Ganze eine Zeit lang reflektiert habe, sondern… man sitzt in etwas drin und redet sich das selber schön."

O-Ton
Lukas Jansen (Name geändert):
"Diese komplett verzerrte Wahrnehmung der Realität. Ja, meine Güte. Wir zeigen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Aber wir sind ja nicht so schlimm wie die, die, diesen und jenen Gewaltakt an dieser und jener Altersgruppe noch begehen. So dieses Phänomen von" Wir sind gar nicht so schlimm, andere sind viel schlimmer". Ich weiß nicht, warum die sich das noch geben müssen."

Andreas G., Mitte 40, ist alleinstehend, lebt von Aushilfsjobs. Er wohnt in dieser Zeit bei seiner Mutter in einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen. Von dort regelt er das Geschehen auf der weltweiten Plattform Boystown. Quasi vom Küchentisch. Im Forum agiert er als "Phantom", verteilt Aufgaben an andere User. Als wären sie Verwaltungsangestellte.

O-Ton
Andreas G., ehem. "Boystown"-Chef (Stimme nachgesprochen):
"Die Organisation an sich. Wenn man das einigermaßen hinkriegen will, macht man das wie in einem Unternehmen, anders geht es nicht. Da gibt es alles, von Urlaubsvertretung, es gibt Krankenscheine und es gibt Urlaubsanmeldungen und Abmeldung. Da wird dann halt gesagt: pass auf, ich vor zwei Wochen in Urlaub, ich bin von da bis dann weg. Ich melde mich spätestens dann wieder. Solche Sachen wurden halt verabredet. Das muss auch alles irgendwie organisiert, durchdacht und nachgedacht werden."

Ums Geld verdienen ging es bei Boystown nicht. Die Währung waren die Bilder, die Bezahlung erfolgte durch Anerkennung, wer die krassesten, die meisten Aufnahmen einstellt. Dafür gab es Auszeichnungen. Im Laufe des Interviews wird klar: Andreas G. verteidigt sein Forum bis heute.

O-Ton
Andreas G., Pädokrimineller (Stimme nachgesprochen):
"Ich bin ich bin der Ansicht, dass ohne diese Foren noch viel schlimmere Sachen passieren, weil die Leute sich nicht abreagieren können."

Also noch mehr Missbrauch von Kindern? Nachfrage bei einer, die sich mit dieser Parallelwelt auskennt:  Andrea Güde ist die Staatsanwältin, die den Boystown-Chef hinter Gitter brachte. Stimmt diese Aussage, die unter Pädokriminellen oft wiederholt wird?  Ohne die Foren würde Schlimmeres passieren?

O-Ton
Andrea Güde, Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main:
"Das finde ich sehr kurz argumentiert. Also wir sind ja denkende Wesen und unabhängig von unserer Neigung sind wir in der Lage, uns da auch Grenzen zu stecken. Und ich glaube, das ist zu kurz gedacht, um das zu rechtfertigen. Dass alle sich da anschließen, um nicht im realen Leben ein Kind zu missbrauchen. Kann ich so nicht nachvollziehen."                   

Und trotz des Forums: auch Andreas G. missbraucht zur gleichen Zeit tatsächlich ein Kind. In privaten Chats mit anderen Usern verrät er, wie er sich nachts an einem Jungen vergeht: "… er hat einen sehr festen Schlaf… muss nur vorsichtig sein."

O-Töne
Panorama:
"Da haben Sie keine Skrupel gehabt?"
Andreas G., ehem. "Boystown"-Chef (Stimme nachgesprochen): "Oh doch... Ich weiß, dass das alles für jemanden, der nicht in der Situation ist oder der nicht in dieser Szene unterwegs ist, dass das alles widerlich klingt, abartig klingt, idiotisch klingt. Man redet sich Sachen schön. Das ist Zwang. Irgendwann kann man nicht widerstehen. Da bin ich nicht stark genug gewesen zu widerstehen. Das ist richtig. Es ist was, das kann man nicht verzeihen."         

Es ist seine Prahlerei in den Chats über den andauernden Missbrauch, die ihm letztlich zum Verhängnis wird. "Phantom" wird identifiziert. Die Ermittler finden Andreas G. in Nordrhein-Westfalen. Er sitzt gerade am Computer und chattet, als maskierte Polizisten über die Terassentür die Wohnung stürmen. Sie reißen ihn vom Schreibtisch zu Boden und überwältigen ihn. Das Überraschende: Andreas G. kooperiert sofort, packt aus. Er gibt den Beamten alle seine Passwörter für die Plattform "Boystown". Warum?

O-Ton
Andreas G., Pädokrimineller (Stimme nachgesprochen):
"Ja gut. Jetzt ist es raus. Das ist schlimm. Klar, alles nicht toll, Das ist auch nicht schönzureden. Aber jetzt ist es auch kein Geheimnis mehr. Das ist nichts, was ich verstecken muss. Es war Erleichterung. Definitiv."

Erleichterung. Reue. Einsicht. Bleibt die Frage: Wie glaubwürdig ist das? Die Gutachterin des Gerichts attestierte dem Boystown-Chef eine "hohe Rückfallgefahr". Also in Freiheit erneut pädokriminelle Sexualdelikte im Darknet zu begehen. Wenn es nach dem Gericht in Frankfurt geht, dann bleibt er für immer hinter Gittern.

Bericht: Robert Bongen, Daniel Moßbrucker
Mitarbeit: Gunnar Krupp
Kamera: Jan Littelmann, Henning Wirtz
Schnitt: Marianne Florey

Abmoderation Anja Reschke: "Bei uns im Internet finden Sie alles zu unseren Recherchen und Berichten über Boystown und ein sehr interessantes Interview mit der Staatsanwältin, die dem Täter im Gerichtssaal monatelang gegenüber gesessen hat."

 

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 12.09.2024 | 21:45 Uhr

Über Panorama

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr