Kindesmissbrauch: Warum löscht die Polizei die Bilder nicht?
Darknet-Foren für den Tausch von Bildern, die Kindesmissbrauch zeigen, werden immer größer. Dennoch lassen Strafverfolger dort bisher kaum Inhalte löschen, obwohl sie es könnten.
Der 3. Mai 2021 bot für deutsche Strafverfolger die Chance, beim sonst so deprimierenden Thema Kindesmissbrauch eine erfreuliche Nachricht zu verkünden. Der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main und dem Bundeskriminalamt (BKA) sei es gelungen, die Hintermänner der "kinderpornografischen Darknet-Plattform Boystown" festzunehmen und die Server abzuschalten. Zweifellos ein großer Erfolg.
Bei einem seiner letzten Auftritte als geschäftsführender Bundesinnenminister bekräftigte Horst Seehofer, dass der Kampf gegen Kindesmissbrauch zu den drängendsten Aufgaben gehöre, mit denen sich die Strafverfolgung derzeit konfrontiert sieht. Er wies allerdings darauf hin, dass es neben der Rettung von Kindern und der Erfassung von Tätern ebenso wichtig sei, illegales Foto- und Videomaterial aus dem Netz zu entfernen. "Was für ein unermessliches Leid, das die Täter den Kindern zufügen! Das Bild- oder Videomaterial darf auf keinen Fall dauerhaft online abrufbar sein", sagte Seehofer auf der Herbsttagung des BKA Mitte November.
"Boystown"-Inhalte sind wieder online
Was Seehofer wohl nicht ahnte, als er die Worte sprach: Viele Missbrauchsaufnahmen der Plattform "Boystown" waren längst online wieder verfügbar, als die Ermittler im Mai die Öffentlichkeit über ihren Erfolg informierten. Dies ergaben gemeinsame Recherchen von Panorama, STRG_F und des Magazins "Der Spiegel". Ein User hatte eine "Privatkopie" des Forums an prominenter Stelle im Darknet geteilt, sodass sich Pädokriminelle weiterhin Boystown-Inhalte ansehen konnten.
Das BKA bekam davon offenbar nichts mit. Hätte das Amt die bei "Boystown" verlinkten Inhalte bei den entsprechenden Speicherdiensten gemeldet, wären sie endgültig aus dem Netz verschwunden. Diesen Schritt aber ging das BKA nicht. Während die Strafverfolger also die beschlagnahmten Server auswerteten, um den vier Festgenommenen ihre Taten nachzuweisen, konnten sich User weiterhin Fotos und Videos herunterladen, die den schweren Missbrauch von Kindern zeigen.
Dies hängt mit der besonderen Online-Architektur von Pädokriminellen-Netzwerken wie "Boystown" zusammen. Zwar nutzen sie zum Betreiben ihrer Plattformen das anonyme Darknet. Aber die Datenmengen ihrer Aufnahmen sind zu groß, um dort gespeichert zu werden. Daher wählen die Pädokriminellen stattdessen Speicherdienste im gewöhnlichen Internet, um ihr Material dort verschlüsselt hochzuladen. Im Darknet-Forum teilen sie dann nur einen entsprechenden Download-Link, oft mit Passwortschutz. Wer sich ein Video ansehen will, muss sich also den genauen Link im Darknet-Forum holen, die Daten selbst lädt er jedoch aus dem normalen Internet herunter. Die Speicherdienstbetreiber wissen nach Panorama-Recherchen meist nichts davon. Werden ihnen diese Links zu illegalen Inhalten auf ihren Servern gemeldet, sind die Unternehmen verpflichtet, sie umgehend zu löschen.
Ermittlungsbehörden lassen Aufnahmen nicht löschen
Im aktuell größten Darknet-Forum, in dem Fotos und Videos von schwerem Kindesmissbrauch geteilt werden, stehen derzeit mehr als 20 Terabyte - das sind 20.000 Gigabyte - an Bildmaterial zum Download. Das zeigen recherchierte Daten von November 2021. Diese Menge entspricht in etwa so viel, wie wenn ein Mensch über ein Jahr lang Tag und Nacht hochauflösende Videos schauen würde, die den Missbrauch von Kindern zeigen.
Die Recherchen belegen auch, dass es sehr einfach wäre, diese Aufnahmen löschen zu lassen. Da Ermittlungsbehörden sich jedoch nicht darum kümmern, können Pädokriminelle solche Fotos und Videos seit Jahren weiterverbreiten.
Betroffene von sexuellem Missbrauch schilderten Panorama, STRG_F und dem "Spiegel", wie traumatisch der Gedanke sei, dass Pädokriminelle auch Jahre nach dem Missbrauch die Aufnahmen in den Foren tauschen und sich daran erfreuen. "Die Polizei hätte die Möglichkeit, die Betroffenen davor zu bewahren, weiter ausgebeutet zu werden, indem sie die Aufnahmen regelmäßig löschen lässt", sagt Julia von Weiler von der Organisation "Innocence in Danger". "Dass die Polizei aber von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch macht, weil es im Moment anscheinend nicht wichtig genug ist, das ist für die Betroffenen wirklich ein Schlag ins Gesicht."
"Zielkonflikt" für die Strafverfolgung
Ermittlerinnen und Ermittler bekunden vor und hinter der Kamera unisono, wie wichtig es ihnen sei, die Inhalte so gut es geht aus dem Netz nehmen zu lassen. Julia Bussweiler von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main sieht allerdings einen Zielkonflikt in der Strafverfolgung: Wenn man ein Forum durch konsequentes Löschen "an den Rand der Existenz bringt, ist es das, was einen freut, weil es den Anlaufpunkt nicht mehr gibt. Auf der anderen Seite weiß man nicht, wo die User sich dann treffen."
Hans-Joachim Leon, der Leiter der Gruppe "Gewalt- und Sexualdelikte" im BKA, dessen Einheit auch die Plattform "Boystown" abschaltete, betont im Interview, dass es zwar einerseits ein "essenzieller Auftrag auch an die Strafverfolgungsbehörden" sei, Missbrauchs-Dateien aus dem Netz entfernen zu lassen. Gerade bei ihren Ermittlungen im Darknet würden sie jedoch nicht löschen lassen. "Unsere Ermittlungen sind täterorientiert. Wir versuchen, die User zu bekommen. Wir sammeln keine Links ein", sagte Leon. Er verwies auf die personellen Ressourcen, die das Melden der Inhalte in Anspruch nähme - und die dann anderswo fehlten.
Muss es beim "Entweder Oder" bleiben?
Die Frage für die Zukunft wird sein, ob es beim aktuellen "Entweder Täter finden oder Inhalte löschen lassen" bleiben muss - oder ob es ein "Sowohl als auch" geben kann. Denn die Recherchen zeigen, dass sich hier mit geringen Mitteln erstaunliche Zahlen erreichen lassen. In einem Versuch sammelten Panorama-Datenjournalisten rund 80.000 Links zu illegalen Inhalten im aktuell größten Darknet-Forum ein, um sie anschließend zu melden. Das Sammeln der Links dauerte nur wenige Stunden, nach der Meldung bei den in- und ausländischen Speicherdiensten waren die Inhalte spätestens nach zwei Tagen gelöscht - nachdem sie zuvor bis zu sechs Jahre lang online gewesen waren. Dem Forum, das aktuell rund 3,7 Millionen User-Accounts hat, setzte die Löschung spürbar zu, weil ein Großteil der dort verlinkten Inhalte offline war.
"User zu Tode nerven"
So gelang es, auch Kontakt zum Administrator des Forums aufzunehmen. Er bestätigte, dass Strafverfolgungsbehörden bisher keine Inhalte, die auf seiner Plattform verlinkt sind, systematisch gemeldet hätten - obwohl dies die User "zu Tode nerven" könnte: Wenn man lang genug lösche, könne es passieren, dass die Leute gehen und die Administratoren "den Laden dichtmachten".
Die Ermittlungsbehörden spielen den Ball nun zurück zur Politik, die entscheiden solle, wie die vorhandenen Personalressourcen eingesetzt werden sollten. Vorzugsweise brauche es eine europäische Lösung, sagt Hans-Joachim Leon vom BKA. Aktuell kümmert sich nur das Canadian Center for Child Protection als private Initiative teilweise um Inhalte-Meldungen bei Speicherdiensten. Dahinter steht ein kanadischer Verein mit begrenzten finanziellen und personellen Kapazitäten.
Enthemmung bei den Tätern
NRW-Innenminister Herbert Reul zeigte sich im Panorama-Interview von den Recherchen überrascht - und sich vorstellen kann, hier künftig einen stärkeren Fokus auf Löschungen zu legen: "Das ist eine ganz interessante und kluge Strategie, gar keine Frage", sagte der CDU-Politiker. "Verbrechen kann man nicht nur mit einem Schlag aufklären, sondern manchmal muss man einfach dranbleiben, nerven, stören, Unruhe verbreiten, es unattraktiv machen, es erschweren."
Die Zeit drängt, denn Löschen ist längst nicht mehr "nur" eine Frage von Rechten der Betroffenen. Die Dauer-Verfügbarkeit härtester Missbrauchsdarstellungen kann bei Pädosexuellen die Hemmschwelle senken, selbst kriminell tätig zu werden.
Aus Vernehmungen von Beschuldigten wisse man, dass die tagtägliche Präsenz im Forum die Täter regelrecht unter Druck gesetzt habe, neue Fotos und Videos zu produzieren, sagt Staatsanwältin Bussweiler. "Wir sehen in solchen Plattformen eine große Gefahr, dass sich solche Netzwerke radikalisieren und das da noch viel, viel schlimmerer Missbrauch an Kindern verübt wird."