Sendedatum: 16.05.2017 21:15 Uhr

Ehemalige Heimkinder: Missbrauch ohne Strafe

von Lena Gürtler

Dieser Termin kostet Wencke Glomp mehr als Selbstbeherrschung: Sie kehrt an den Ort zurück, an dem sie sexuell missbraucht wurde. Das ist ihr Weg, gegen das Vergessen anzukämpfen. Denn mehr als 20 Jahre lang hat sie geschwiegen. Denn als sie damals über den Missbrauch berichtete, glaubte ihr niemand. Heute glaubt man ihr, aber trotzdem wird niemand für die Tat bestraft.

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Der "Millionär" holte die Mädchen aus dem Heim

Die Geschichte beginnt Anfang der 1990er-Jahre. Wencke Glomp lebt im Kinderheim in Klein Labenz in Mecklenburg-Vorpommern. Zu Hause waren die Probleme mit der Mutter zu groß. Wencke Glomp fühlt sich wohl in dem Heim, bis eines Tages "der Millionär" auftaucht. So nennen die Heimkinder einen Mann, der im Mercedes vorfährt und Mädchen aus dem Heim abholt. Er wolle ihnen Sachen kaufen, sagt er. Auch Wencke Glomp fährt mit. Gerd M., so heißt "der Millionär", bringt sie in ein ehemaliges FDGB-Heim. Das hat er von der Gemeinde gepachtet. Vorher, so erzählt es der Bürgermeister, hat er mit seinen Millionen geprahlt, die er ausgeben will. In dem kleinen Mecklenburger Ort ist man nach dem DDR-Zusammenbruch froh, dass jemand kommt, mit Aufträgen und Plänen für das ehemalige DDR-Urlaubsdomizil.

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Heute steht Wencke Glomp im ehemaligen Speisesaal des FDGB-Heims, zwischen umgekippten Stühlen, auf dem Boden verstreuten Aktenordnern und halboffenen Schränken. Einige Fensterscheiben sind zerbrochen. Im Wind blähen sich Gardinen, die wohl schon hingen, als noch SED-Politbüro-Mitglied Harry Tisch hier frühstückte. "Wenn man hier steht, hat man wieder vor Augen, was man jahrelang versteckt und geschluckt hat", sagt Wencke Glomp. Später beim Rundgang findet sie die alte Bar mit den Hockern, auf denen sie saßen, wenn sie auf Gerd M. warteten. Sie erzählt, wie er die Mädchen nacheinander abholte, sie fotografierte, wie er sie dazu brachte, sich selbst anzufassen und wie er mit den Fingern in sie eindrang.

Keiner glaubt ihr

"Du lügst", das soll die Heimleiterin zu ihr gesagt haben, als Wencke Glomp ihr davon erzählte. Und so fuhr sie weiter mit. Auch, so erzählt sie, weil sie das zehnjährige Mädchen, das Gerd M. ebenfalls abholte, nicht allein lassen wollte. Irgendwann verschwand Gerd M. einfach über Nacht. Die Polizei durchsuchte die Büros im Ex-FDGB-Heim. Gerd M. hatte Rechnungen nicht bezahlt. Auch die Pacht an die Gemeinde blieb offen, genauso wie die Gehälter einiger Mitarbeiter. Wencke Glomp und die anderen Mädchen erfuhren von alledem nichts. Und sie schwiegen.

Wencke Glomp ist kein Einzelfall

Anne Drescher, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern
Sexueller Missbrauch findet bei Heimkindern häufiger statt, so Anne Drescher, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen.

"Im Vergleich zur 'normalen' Bevölkerung ist es auffallend, wie häufig sexueller Missbrauch in den verschiedensten Ausprägungen hier bei den Heimkindern berichtet wird", sagt Anne Drescher, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern. Zu ihrer Behörde gehört die Anlaufstelle für DDR-Heimkinder. Vor ihr liegt die Akte von Wencke Glomp. Als sie im vergangenen Jahr hierherkam, erzählte sie, was ihr passiert ist. Kein Einzelfall für Anne Drescher, in vielerlei Hinsicht. Häufig brauchten die Betroffenen Jahrzehnte, um überhaupt zu reden. Viele ehemalige Heimkinder berichten auch, sie hätten sich jemandem anvertraut, einem Lehrer oder der Heimleitung - oftmals ohne Konsequenzen. Die Täter blieben unbehelligt, so wie Gerd M. und auch die Heimleiterin. Anne Drescher weiß, wie schwierig Ermittlungsverfahren in solchen Fällen sind. Sie erstattet trotzdem Anzeige, denn auch Wencke Glomp weiß nicht, wie viele Mädchen betroffen waren und was Gerd M. heute macht.

Vorbestraft wegen Missbrauchs

Claudia Lange, Oberstaatsanwältin Schwerin
Taten Anfang der 90er-Jahre sind heute leider bereits verjährt, so Claudia Lange, Oberstaatsanwältin Schwerin.

Die Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen auf und befragt zunächst Wencke Glomp und einige andere Mädchen aus dem Heim. Oberstaatsanwältin Claudia Lange betont, wie schwierig die Aufklärung von lange zurückliegenden Sexualstraftaten sei. In diesem Fall sei es anders gewesen, sagt sie: "Wir haben von den Zeugen sehr klare, in sich schlüssige und vor allen Dingen detailreiche Aussagen bekommen. Und diese Aussagen haben aus Sicht der Staatsanwaltschaft keinen Anlass dazu gegeben, diesen Frauen keinen Glauben zu schenken." Dieses Mal also glaubt man Wencke Glomp. Die Ermittler identifizieren Gerd M. Er wohnt in Berlin. Und noch eine Information erhalten sie. Gerd M. ist vorbestraft wegen Missbrauchs. Doch dann - während die Ermittlungen noch laufen - stirbt Gerd M.

Es bleibt die Heimleiterin. Auch sie wird vernommen. Sie leugnet nicht, dass Gerd M. die Heimkinder abholte, betont aber, dass sie den Kontakt zu Gdem Mann unterbunden habe, weil der mit ihnen Unterwäsche gekauft haben soll. Dass Wencke Glomp jemals über die sexuellen Übergriffe mit ihr gesprochen habe, bestreitet sie. Auf die Frage, ob die Staatsanwaltschaft ihr das geglaubt habe, hat Oberstaatsanwältin Claudia Lange eine überraschende Antwort: "Diese Frage hat die Staatsanwaltschaft nicht mehr zu beantworten. Das hängt damit zusammen, dass die Straftaten verjährt sind." Denn dies ist das Ergebnis der Ermittlungen: Eine Tat Anfang der 90er-Jahre, betroffen - eine 14-Jährige, die damit als jugendlich gilt. Das ergibt aus juristischer Sicht: Verjährung. Und mehr noch, manche Dinge, die Wencke Glomp und vielen anderen angetan wurden, waren damals nicht mal strafbar. Selbst wenn Gerd M. noch leben würde. Auch dass die Heimleiterin noch lebt und jahrelang weiter mit Kindern gearbeitet hat, spielt aus juristischer Sicht keine Rolle.

"Man sollte uns nicht vergessen"

Inzwischen wurden die Verjährungsfristen deutlich verlängert. Aber das kommt zu spät für Männer und Frauen wie Wencke Glomp, auch wenn sie heute erst Anfang 40 sind. Für sie und gegen die Täter kann die Justiz nichts mehr ausrichten.

Darum muss Wencke Glomp ihren eigenen Weg finden, das alles hinter sich zu lassen. Die Fragen der Staatsanwaltschaft, der Landesbeauftragten, der Journalistin hat sie sich gefallen lassen, um ihren "inneren Frieden" zu finden, sagt sie, und um den anderen Mädchen aus dem Heim zu zeigen: "Wir haben die Geschichte nicht vergessen und vielleicht sollte man uns auch nicht vergessen."

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 16.05.2017 | 21:15 Uhr

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