Aufstieg, Hochzeit, Tattoo - Party-Tage für St. Paulis Identifikationsfigur Irvine
Der FC St. Pauli spielt in der kommenden Saison in der Fußball-Bundesliga. Eines der Gesichter des Erfolges ist Kapitän Jackson Irvine, der den Hamburger Club mit seinen Werten und Idealen verkörpert wie kein Zweiter - auf und neben dem Platz.
Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass Jackson Irvine kein gewöhnlicher Fußballspieler ist, spätestens der Sonntagnachmittag im Millerntor-Stadion hätte ihn geliefert. Mit Tränen in den Augen stand der Australier auf dem Rasen, rang um Worte und dachte sofort an die Fans, den Stadtteil, die Community: "Ich bin zum Club gekommen, um etwas Besonderes zu erreichen, ich wollte dieser Gemeinschaft etwas geben. Und ich denke, das haben wir heute getan", sagte er.
"Meine Emotionen spielen verrückt, so etwas habe ich noch nie gefühlt. Dankbarkeit, Freude, einfach alles." Jackson Irvine
Vollkommen überwältigt fuhr er sich immer wieder mit den Händen durch die Haare, durch das Gesicht, wusste kaum, wohin mit sich: "Meine Emotionen spielen verrückt, so etwas habe ich noch nie gefühlt. Dankbarkeit, Freude, einfach alles", sagte er dem NDR.
Den etwas flapsigen Begriff dafür, was Irvine am Sonntag in den Minuten nach dem Abpfiff gegen Osnabrück und dem damit feststehenden Aufstieg St. Paulis in die Fußball-Bundesliga spürte und fühlte, hat Jürgen Klinsmann anno 2006 nach dem WM-Viertelfinalsieg Deutschlands gegen Argentinien geprägt: "die Gefühle Gassi gehen".
Kein Spieler verkörpert St. Pauli wie Irvine
Dass sie es am Sonntagnachmittag mit dem 31-Jährigen machten, ist Ausdruck seines Wesens. Im Moment auch seines großen Triumphes, den er als Kapitän und Torschütze wichtiger Treffer zum Aufstieg maßgeblich mitgeprägt hat, dachte er zunächst an das große Ganze - und über den Fußball hinaus. Es sei "einfach unfassbar, wenn ich sehe, wie viel es den Menschen bedeutet".
Es war der Ausdruck einer Identifikation mit dem Club - letztlich: mit Gemeinschaft und Gesellschaft -, die im Millionen-Geschäft Fußball mit seinen kickenden Ich-AGs keine Selbstverständlichkeit ist.
Es waren die Worte eines Mannes, der im Stadtteil wohnt und sich gegen Rassismus positioniert und für die LGBTQ+-Community einsetzt. Der häufig mit dem Bus zum Training fährt, der keinen Berater hat und der sich am Sonnabend nach der Derbypleite gegen den HSV in ein Geschäft stellte, um seiner Freundin Jemilla Pir beim Verkaufen zu helfen. Worte eines Mannes, der Menschen bewegt, dessen Konterfei sich Fans als Tattoo stechen lassen.
Kein Spieler steht mehr für den Verein als Irvine, keiner verkörpert den Club mehr, keiner ist eine größere Integrations- und Identifikationsfigur: fußballerisch - und darüber hinaus.
Der Australier kam 2021 nach Hamburg
2010 kam der Mittelfeldspieler, der auch die britische Staatsbürgerschaft besitzt, in die U20 von Celtic Glasgow und nach Europa. In seiner bewegten Karriere spielte er unter anderem bei Ross County und Hibernian FC in Schottland sowie bei Burton Albion und Hull City in England, bevor er im Sommer 2021 zum FC St. Pauli kam. Er ist ein weit Gereister, der weiß, wo er herkommt - und auch deshalb den gemeinsamen Erfolg in Hamburg so würdigt.
Vergangene Spielzeit war er gemeinsam mit dem vor der Saison zum 1. FC Köln abgewanderten Leart Paqarada zusammen Co-Kapitän. Seit Sommer ist der Nationalspieler Australiens der alleinige "Skipper" der Mannschaft und stand in dieser Spielzeit in 26 der 33 Ligaspiele auf dem Rasen. Drei Partien verpasste er wegen des Asien-Cups, drei verletzt, eine gesperrt.
Der 31-Jährige ist - auch wenn er betonte, wie viele Leader es im Team gebe - der unumstrittene Anführer der Mannschaft. Sieben Tore - unter anderem den enorm wichtigen Siegtreffer zum 1:0 gegen Hansa Rostock - hat er in dieser Spielzeit erzielt, acht Treffer vorbereitet.
Laufstark, zweikampfstark, kopfballstark
Über diese statistischen Werte hinaus ist er einer der prägenden Akteure des Systems von Trainer Fabian Hürzeler: laufstark, zweikampfstark, kopfballstark. Letzteres - neben Stürmer Johannes Eggestein - auch und gerade bei St. Paulis minutiös geplanten Offensiv-Standards, einem der Erfolgsfaktoren in dieser Saison. Noch wichtiger aber: Er ist einer der vom Coach immer wieder geforderten Entscheider auf dem Platz. Auch in den Fragen, wann das Spiel schnell gemacht und wann Tempo rausgenommen und das Geschehen beruhigt werden muss.
Gemeinsam mit Topscorer Marcel Hartel - 17 Tore, 13 Torvorlagen - und den Abwehrspielern Eric Smith und Hauke Wahl ist der Australier der Struktur- und Taktgeber des Teams und der verlängerte Hürzeler-Arm auf dem Feld, ausgestattet mit einer Gabe und einem Gespür für Situationen im Spiel.
Ein demütiger Anführer
Irvine ist ein demütiger Anführer, ein Teamplayer, der nach dem Abpfiff am Sonntag sagte: "Es ist eine große Ehre, der Kapitän dieser Mannschaft zu sein. Das nehme ich nicht für selbstverständlich." Und ergänzte: "Wir haben uns zu Saisonbeginn zusammengesetzt und haben an uns die höchsten Erwartungen gestellt." Mit dieser Einstellung sei das Team in jede Trainingswoche gegangen. "Wir haben alles gegeben, unser Herz gelassen und uns aufgeopfert. Wir hatten die gesamte Saison über Mentalität, Klasse und Qualität. Und jetzt haben wir diesen Moment zusammen. Wahnsinn."
Im "Sky"-Interview verriet der 31-Jährige - Markenzeichen: Tattoos, lackierte Fingernägel, gefärbte Haare -, dass es zum Aufstieg auf jeden Fall ein neues Tattoo geben werde. Über das Motiv aber war er sich noch nicht im Klaren.
"Es kann nicht besser werden", sagte er mit Freundin Pir im Arm. Und doch, es kann. Denn nach kurzer Pause schob er im Überschwang der Gefühle nach: "Am Dienstag heiraten wir." Aufstieg, Hochzeit, Tattoo - es sind besondere Tage eines besonderen Mannes, der wie kein anderer für alles steht, was den FC St. Pauli ausmacht. Und erfolgreich macht. Auf und neben dem Platz.