St. Paulis Kapitän Jackson Irvine (2. v. l.) beim Kopfball © WITTERS/ValeriaWitters

Ecke, Kopfball, Tor: Wie St. Pauli die Liga mit Standards überrumpelt

Stand: 03.05.2024 07:56 Uhr

Sollte Fußball-Zweitligist FC St. Pauli in die Bundesliga aufsteigen, dann auch dank der vielen Tore nach Standards. Wie kaum ein anderes Team arbeitet die Mannschaft von Trainer Fabian Hürzeler an Varianten für Ecken und Freistöße. Gerade wieder zu sehen beim Sieg gegen Hansa Rostock.

von Tobias Knaack und Sebastian Ragoß

Wohl selten stand jemand in einem Hamburger Stadtderby besser als Karol Mets. Denn viel mehr machte der Este des FC St. Pauli in der 79. Minute an diesem Frühlingsabend im April 2023 nicht. Und doch tat er exakt das, was er zu tun hatte: einen Spieler des HSV daran zu hindern, der scharf geschlagenen Ecke von Marcel Hartel entgegenzugehen.

Denn einen Meter weiter hatte Jackson Irvine so Platz, um einzulaufen und den Ball ins Tor zu köpfen. Und Mets hatte ihm den perfekten Block gestellt - Ecke, Kopfball, Tor St. Pauli.

St. Pauli mit 20 Standard-Treffern - oft zur Führung

Irvines Tor und Mets' Block am 29. Spieltag der Vorsaison zum 3:4-Endstand aus St.-Pauli-Sicht, sie wären eine Randnotiz, wenn sie nicht eine Schablone wären. Eine Schablone, die man auf viele Treffer der Hamburger seither legen könnte, die sie aus Ecken und Freistößen erzielt haben.

Eine Schablone für ein System von Abläufen, das sie seit jenem Abend weiter perfektioniert haben - und das ein wichtiger Bestandteil des Erfolges des Hürzeler-Teams in dieser Spielzeit ist - am vergangenen Freitag wieder zu bestaunen beim 1:0-Sieg gegen Hansa Rostock. Torschütze: Irvine.

20 seiner 57 Saisontore hat der FCSP nach Standardsituationen erzielt, wie die GSN-Daten zeigen - mehr als ein Drittel seiner Treffer. Elf nach Ecken, neun nach indirekten oder direkten Freistößen.

Und vielleicht noch wichtiger: St. Pauli nutzt Tore aus Standards, um im Spiel die Oberhand zu gewinnen. Zehn Führungen haben die Hamburger nach Ecken erzielt, zudem einen Ausgleich. Hinzu kommt noch eine Führung nach einem Freistoß.

Detail-Arbeit der Co-Trainer Nemeth und Knoop

Es sind Werte, die auch ein Spiegel der Detail-Arbeit von Hürzeler und seinen Assistenten sind. Und die zeigen: Die Arbeit an Standardsituationen ist eine kreative Chance und nicht ein notwendiges Übel. Fast 100 Schüsse nach Standards hat sich St. Pauli in der bisherigen Saison erarbeitet, die meisten des Zweitliga-Spitzenquartetts.

Im situativen Spiel Fußball mit all seinen Unvorhersehbarkeiten, seien Standards "etwas, das man beeinflussen kann", sagt der Coach. Entsprechend akribisch arbeiten seine Co-Trainer Peter Nemeth an Offensiv- und Marco Knoop an Defensivvarianten.

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Die werden in mehreren Sitzungen erarbeitet - auch im Dialog mit den Spielern und "im Wechsel von Theorie und Praxis, denn du musst das auf dem Platz spüren", sagt Hürzeler. Wichtig aus seiner Sicht ist dabei, "die Spieler mit ins Boot zu holen", von ihnen zu hören, "was sie von einer Variante halten und zum jeweiligen Gegner sagen".

Holstein Kiel trifft nach Standards noch häufiger

Rein statistisch ist Holstein Kiel bei Standards noch erfolgreicher als St. Pauli: Die "Störche" haben 25 Treffer (10 nach Ecken, 15 Tore nach Freistößen) nach einem ruhenden Ball erzielt - 41 Prozent ihrer insgesamt 60 Saisontore.

Mit 0,57 Expected Goals bei Standards liegen die Schleswig-Holsteiner ligaweit an der Spitze - und damit ebenso vor den Hamburgern (0,29) wie die drittplatzierten Düsseldorfer (0,33) und St. Paulis Stadtnachbar, der viertplatzierte HSV (0,36). Die Fortuna und die "Rothosen" mit je 16 haben insgesamt aber weniger Treffer aus Standards erzielt als die "Kiezkicker".

Der zunehmend akribischere Blick auf Standards, er ist auf dem gesamten Kontinent zu sehen. In ganz Europa gibt es Mannschaften, die erfolgreich und kreativ mit Standardvarianten operieren. In England der abstiegsbedrohte FC Everton unter Trainer Sean Dyche beispielsweise - wie jüngst im Derby gegen den FC Liverpool. In den Niederlanden mit Feyenoord Rotterdam und der PSV Eindhoven gleich zwei Teams. Und in Italien Juventus Turin.

St. Pauli schafft es, Spieler in Position zu bringen

Auch der aktuell vereinslose Coach Graham Porter (ehemals FC Chelsea) ist für seine kreativen und oft unerwarteten Standardroutinen bekannt. Und doch lässt sich am Beispiel des Hürzeler-Teams aktuell besonders anschaulich nachzeichnen, welche Wege Mannschaften beschreiten, um mehr Kapital aus Standards zu schlagen.

Und wie Teams, die wie St. Pauli nicht überdurchschnittlich große Spieler in ihren Reihen haben, es schaffen, diese immer wieder in Position zu bringen.

Zuletzt war dies nicht nur gegen Hansa, sondern auch beim Auswärtssieg in Hannover (2:1) sowie bei der Niederlage in Karlsruhe (1:2) zu sehen. Gegen 96 traf Johannes Eggestein, gegen den KSC Irvine - und beide nach einer Ecke. Vorlagengeber jeweils: Hartel.

Vordergründig bilden die drei das Triumvirat der Hamburger Standardstatistiken - Hartel als Standardschütze, Eggestein und Irvine als Zielspieler. Doch damit sie Eingang in die Statistiken finden, bedarf es weiterer Spieler. Spieler wie Mets - oder Hauke Wahl.

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Blockstellen wie im Basketball

Denn wie im gesamten Spiel setzen Coach Hürzeler und sein Team auch bei Standardsituationen auf klar erkennbare Abläufe und Muster. Mets und Wahl agieren entweder als Blocker oder postieren sich am zweiten Pfosten. Mets blockt bei Ecken von links, Wahl bei Ecken von rechts.

Manolis Saliakas, Lars Ritzka sowie der mittlerweile schwer verletzte Philipp Treu kamen und kommen häufig Rollen im Rückraum zu - für Schüsse oder Flanken aus der Distanz.

Anleihen sind dabei in verschiedenen Sportarten zu finden: Mets' Blockverhalten im Hamburger Stadtderby etwa hatte Züge des aus dem Basketball bekannten "Screening", einer zentralen Technik des Blockstellens, um Räume für Mitspieler zu schaffen oder ihnen freie Wurfmöglichkeiten zu ermöglichen. Aus dem American Football ließen sich Laufrouten und Blocktechniken entlehnen.

"Quarterback" Hartel, "Passempfänger" Irvine und Eggestein

Bleibt man im Football-Jargon, ist Hartel der "Quarterback" - der Spielgestalter - der Ecken und Freistöße des FC St. Pauli. Für einen guten Standardschützen sind den GSN-Analysten zufolge vor allem Präzision, Konstanz, Vielseitigkeit, Kreativität und taktisches Verständnis, Ruhe und Konzentration unter Druck sowie ein gutes Entscheidungsvermögen von großer Bedeutung. Gepaart mit einer guten Technik können so verschiedene Varianten erarbeitet werden.

Welche davon gespielt wird, würden die Spieler entscheiden, sagt Hürzeler: "Ich will Entscheider auf dem Platz." Sein Team bevorzugt bei Ecken die Ausführung an den Elfmeterpunkt (48 Prozent), an die Kante des Sechzehnmeterraums (23 Prozent) sowie an den kurzen Pfosten (16 Prozent).

Während Irvine - wie im vergangenen Frühjahr im Volkspark - meist um den Elfmeterpunkt herum gesucht wird, ist Eggestein etwas variabler unterwegs: Er agiert zwar auch um den Elfmeterpunkt herum, taucht häufig aber auch am kurzen Pfosten auf.

In Hannover und gegen Rostock brachte die Variante an den Elfmeterpunkt St. Pauli den Sieg - und den Club dem Traum vom Bundesliga-Aufstieg ein großes Stück näher.

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