Datenanalyse: So kann Trainer Blessin St. Pauli weiterentwickeln

Stand: 02.07.2024 09:30 Uhr

Fußball-Bundesligist FC St. Pauli hat in Alexander Blessin einen neuen Trainer gefunden - und den Daten nach eine gute Wahl getroffen. Die Analyse zeigt, wo seine Spielphilosophie der von Vorgänger Fabian Hürzeler ähnelt und wo sie sich unterscheidet.

von Tobias Knaack

Wäre die Bundesliga eine Dating-App, dann hatte St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann praktisch gar keine Möglichkeit, an Blessin vorbeizukommen. Ihn bei knapp 89 Prozent Übereinstimmung "wegswipen"? Nahezu unmöglich! Zu viele gemeinsame Interessen, zu viele ähnliche Ideen, wie auch die Zahlen des Global Soccer Networks (GSN) belegen.

"Wir haben ein Anforderungsprofil erstellt und geschaut, wer zu uns und der Mannschaft passt. Alex hat nahezu alle Anforderungen erfüllt." St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann

Wie im realen Leben auch standen natürlich noch persönliche Kennenlerntreffen dazwischen, die Daten aber hatten es angedeutet: Die Chancen, dass Club und Trainer Lust auf eine gemeinsame Zukunft haben würden, standen gut. Und so bekannte Blessin bei seiner Vorstellung in der vergangenen Woche auch, es habe "gut gematcht". Und Bornemann erklärte zum Eingehen des gemeinsamen Bundes, dass "wir ein Anforderungsprofil erstellt und geschaut haben, wer zu uns und der Mannschaft passt. Alex hat nahezu alle Anforderungen erfüllt."

Der Sportchef und Präsident Oke Göttlich hatten nach dem Weggang von Aufstiegstrainer Hürzeler zum Premier-League-Club Brighton & Hove Albion betont, den eingeschlagenen Weg weitergehen zu wollen - auch hinsichtlich der Spielphilosophie. Blessin hatte als Trainertyp von den gehandelten Kandidaten laut GSN die größte Übereinstimmung mit seinem Vorgänger - knapp 91 Prozent. Dass die Wahl auf den gebürtigen Stuttgarter gefallen ist, ergibt - schaut man auf die Anforderungen an die Spieler oder die Art und Weise des gewünschten Auftretens - Sinn.

Blessin will kein "Fabian 2.0" sein - und ist es auch nicht

Dass Blessin nach der Trennung der Hamburger und ihrem Erfolgscoach nach anderthalb Jahren intensiver Beziehung nicht einfach nur ein Lückenfüller sein möchte, machte er schnell klar: "Es soll hier kein Abenteuer werden", sagte der 51-Jährige: "Ich bin nicht Fabian 2.0, ich bin Alex."

Das bisher Dagewesene kaputtmachen möchte er keineswegs. Seine eigene Note, seine eigenen Ideen einbringen aber durchaus. Es gibt zwar grundlegende Gemeinsamkeiten in den Ansätzen - etwa hinsichtlich der Effektivität bei Standards, der Zweikampfintensität oder der taktischen und physischen Anforderungen an die Spieler -, aber eben auch einige Unterschiede im Vergleich zu Hürzeler.

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3-5-2 statt 3-4-3

Das fängt bei der Formation an: Ließ Hürzeler überwiegend im 3-4-3 agieren, präferiert Blessin ein 3-5-2. War der Aufstiegscoach vor allem auf möglichst viel Ballbesitz aus, um das Spiel zu dominieren, hat der 51-Jährige in der vergangenen Saison bei Royale Union Saint-Gilloise auch viele Pressingelemente in seinem Spiel gehabt.

Den GSN-Daten zufolge lag der Tabellenzweite der belgischen Liga bei den Balleroberungen insgesamt sowie den Ballgewinnen in der gegnerischen Hälfte auf Rang zwei, bei den schnellen Rückeroberungen (binnen fünf Sekunden nach einem Ballverlust) sogar auf Platz eins. Das könnte - geht man davon aus, dass St. Pauli als Aufsteiger in der Bundesliga nicht so viel Ballbesitz haben wird wie in der 2. Liga - ein gutes Mittel sein, um zum Erfolg zu kommen.

Starkes Positionsspiel, schnelles Umschalten

Es gehe darum, "eine Balance zu finden", sagte Blessin - mit einem GSN-Index von 67,52 ein Trainer von Bundesliga-Format - bei seiner Vorstellung: "Wir werden weniger Ballbesitzzeit haben. Es gibt aber auch Facetten, die wir beibehalten wollen." Bedeutet übersetzt: Auch weiter wird es ein Ziel sein, dominant zu spielen.

Aus dem Positionsspiel heraus war Saint-Gilloise unter dem 51-Jährigen in vielen Bereichen die beste oder zweitbeste Mannschaft der Liga - beispielsweise beim Kreieren von Torchancen. Ist das aber nicht möglich, könnten das hohe Pressing und schnelle Umschaltmomente zu neuen Stilmitteln des FC St. Pauli werden.

Es wäre eine Weiterentwicklung - und könnte auch mit einer stärkeren taktischen Flexibilisierung einhergehen. Während Hürzeler recht starr an seinem 3-4-3-System festhielt, hat Blessin seine Lieblingsformation 3-5-2 in der vergangenen Saison lediglich in 54 Prozent der Minuten spielen lassen. Auch ein 3-4-2-1 (14 Prozent), 3-4-1-2 (neun Prozent) oder 3-4-3 (neun Prozent) waren häufiger die Grundformation.

Beim CFC Genua, einer seiner vorherigen Stationen in Italien, ließ er auch mit Viererkette in der Abwehr spielen. Bei seiner Präsentation in Hamburg deutete er allerdings an, dass er eine Dreierkette bevorzugt

Veränderte und neue Rollen

Von seinen Spielern fordert Blessin, der als Spieler siebenmal für den VfB Stuttgart in der Bundesliga auflief, zumeist aber in der 2. Liga und darunter bis in die Oberliga spielte, wie Hürzeler ein hohes Maß an taktischem Verständnis sowie eine hohe Lauf- und Einsatzbereitschaft. Saint-Gilloise bestritt vergangene Saison in Belgien die zweitmeisten Zweikämpfe - und gewann auch die zweitmeisten Duelle ligaweit.

Die Rollen könnten sich dabei von denen unter Hürzeler unterscheiden. Beispielsweise im Zentrum der Abwehrkette: Während Eric Smith unter dem gebürtigen Texaner bei eigenem Ballbesitz als Spielgestalter ins Mittelfeld vorschob, sieht Blessin den GSN-Analysen zufolge auf dieser Position deutlich stärker einen Organisator der Verteidigung, der maßgeblich für das Abfangen durchgespielter Bälle verantwortlich ist.

Eine Schlüsselrolle kommt in Blessins 3-5-2-System den Flügelspielern zu. Sie dienen sowohl der Verteidigung als auch dem Angriff und müssen lange Distanzen überbrücken, gute Flanken schlagen und sich bei Bedarf in eine defensive Fünferkette fallen lassen können.

Ein klarer Zielspieler im Angriff fehlt

Neu am Millerntor wäre ein zweiter Stürmer, auch wenn der 51-Jährige sagte, die Grundformation mit zwei Angreifern sei "nicht in Stein gemeißelt". Blessin lässt um einen Zielspieler herum gerne mit einem mobilen Angreifer agieren. Während der Zielspieler den Ball im Angriffsdrittel halten, das Nachrücken des Teams ermöglichen sowie entscheidende Pässe spielen soll, nutzt der mobile Stürmer seine Geschwindigkeit, um hinter die Verteidigungslinien zu gelangen und Chancen durch schnelle Vorstöße zu kreieren.

Während St. Pauli in Johannes Eggestein einen solchen Angreifertyp hat, fehlt dem Team - wie bereits im Mai analysiert - noch immer ein klarer Zielspieler. Den GSN-Scoutingexperten zufolge könnten die jungen Stürmer Nik Prelec (22 Jahre alt, Cagliari Calcio, aktueller GSN-Index bei 66,88), Albion Rrahmani (23, Rapid Bukarest, 67,46) oder Uros Sremcevic (18, Roter Stern Belgrad, 64,90) infrage kommen - auch auf Leihbasis.

Zudem besteht nach dem Abgang von Topscorer Marcel Hartel auch im offensiven Mittelfeld Handlungsbedarf. Es wartet also in der Kaderplanung direkt Arbeit auf den Neuen, der nach seiner aktiven Karriere zunächst in der Versicherungsbranche tätig war ("Ich war frustriert vom Fußball, weil die letzten drei Vereine, für die ich gespielt habe, insolvent gingen und ich nicht bezahlt wurde."), bevor er im Nachwuchsleistungszentrum von RB Leipzig seine Trainerkarriere startete.

Trainingsstart am 8. Juli

Auch wenn sein Team in der zurückliegenden Spielzeit immer wieder anfällig für schnelle Konter und Ballverluste in der eigenen Hälfte war: Blessins Fokus auf intensives Pressing, schnelles Umschaltspiel und die Entwicklung junger Spieler harmoniert gut mit der Philosophie von St. Pauli - und bietet die Möglichkeit, die Stärken des Teams weiterzuentwickeln.

Am 8. Juli starten die "Kiezkicker" in die Vorbereitung auf die erste Bundesliga-Saison seit 13 Jahren. Die soll nur der Anfang der gemeinsamen Zeit für das "gute Match" von Club und neuem Coach sein.

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