Kader-Analyse nach Hartel-Abgang - Wo St. Pauli Handlungsbedarf hat
Der FC St. Pauli ist verdient in die Fußball-Bundesliga aufgestiegen. Doch das letzte Viertel der Saison hat gezeigt, dass das Team von Trainer Fabian Hürzeler Baustellen hat, die angegangen werden müssen. Das belegen auch die Daten und wird umso wichtiger, da Topscorer Marcel Hartel den Club verlässt.
Der Trainer der Braun-Weißen ist ein vorausschauender, proaktiv handelnder Mensch. Das hat der 31-Jährige in seiner Karriere häufiger bewiesen - ob als Spieler oder als Trainer. Es ist unter anderem das, was ihn so erfolgreich gemacht hat.
Und so nutzte Hürzeler die große Bühne der wilden Aufstiegs- und Meisterfeier auf dem Spielbudenplatz am Pfingstmontag neben einer großen Eloge auf die Fans ("Ihr seid dafür verantwortlich, dass diese Mannschaft aufgestiegen ist!") auch dazu, schon mal ein wenig vorzubauen.
Er nahm den Moment des Triumphes, um die Fans bei aller Euphorie ein wenig darauf vorzubereiten, dass es in der Bundesliga nicht ganz so rauschhaft weitergehen muss, wie seit seiner Amtsübernahme vor anderthalb Jahren. Mit Sicherheit wusste Hürzeler zu diesem Zeitpunkt vom bevorstehenden Abgang Hartels, nur kommuniziert werden konnte er nicht.
"Wenn wir weiter demütig und bescheiden bleiben und unsere Werte leben, dann können wir auch in der Ersten Liga bestehen." St.-Pauli-Trainer Fabian Hürzeler
Einen kleinen Vorgeschmack darauf, dass die Ergebnisse nicht mehr so "leicht" kommen, wie es über weite Teile der Spielzeit hinweg ausgesehen hatte, haben die Hamburger im letzten Viertel der Saison auch bereits mit ihrem Topscorer bekommen. Einge Mannschaften hatten sich phasenweise besser auf das dominante Spiel des Hürzeler-Teams eingestellt.
Der Coach hat das sehr wohl registriert und beschwor - geschickt verpackt und mit hörbar rauer Stimme - mitten in die Feierlaune hinein für die kommende Saison die Einheit, das gemeinsame Band, das Arbeitsethos: "Wenn wir weiter demütig und bescheiden bleiben und unsere Werte leben, dann können wir auch in der Ersten Liga bestehen."
St. Paulis Kader an der Grenze zwischen 2. Liga und Bundesliga
Hürzelers Appell ist verständlich, wird beim Blick auf die Daten des Global Soccer Networks (GSN) bestätigt - und durch Hartels Weggang nur größer. Der aktuelle Kader-Durchschnitt des GSN-Index' lag schon mit dem 28-Jährigen bei 61,53. Das ist die Schwelle zwischen sehr gutem Zweitliga-Niveau und unterdurchschnittlichem Bundesliga-Niveau - und birgt somit die Gefahr, dass es in dieser Konstellation in Deutschlands höchster Spielklasse nur bedingt reichen kann.
Ohne Hartel hat St. Pauli aktuell zehn Spieler im Kader, die Erstliga-Durchschnitt verkörpern und sechs, die über ausreichend Potenzial verfügen, sich weiterzuentwickeln. Allerdings sind auch neun Akteure den Daten nach nicht bundesligatauglich.
Klar ist: Auch nach dieser starken Zweitliga-Saison gibt es mit Blick auf die anstehende Bundesliga-Spielzeit einige Bereiche, in denen sich die Mannschaft verbessern und weiterentwickeln muss, will sie konkurrenzfähig sein.
Unter anderem muss, obwohl die "Kiezkicker" mit 36 Gegentoren die beste Abwehr der Liga gestellt haben, der Fokus auf eine Verbesserung der defensiven Stabilität gelegt werden.
In der Offensive stehen vor allem die Effizienz im Torabschluss sowie ein präzises Passspiel im Blickpunkt. Und insgesamt wird es um die Erhöhung der taktischen Variabilität sowie eine starke physische und mentale Vorbereitung und gezielte Verstärkungen des Kaders gehen, um in der Bundesliga erfolgreich zu sein.
Defensive Stabilität, höhere Effizienz, taktische Variabilität
Die Planung dafür sei "in vollem Gange", sagte Hürzeler am Rande der Feier an Pfingstmontag. Nach einem Tag "ohne Termine" wolle er "akribisch weiterarbeiten". Mit Blick auf die Defensive muss er den GSN-Daten nach vor allem drei "Problemfelder" angehen, will er mit dem Team gegen die dann stärkeren Gegner in der Bundesliga nicht dauerhaft in "unnötige Drucksituationen" geraten: das Zweikampf- und Tacklingverhalten, die Balleroberung in der eigenen Hälfte (beispielsweise Pässe abzufangen), die Konsequenz, mit der der Ball aus der Gefahrenzone gespielt wird.
In diesen Aspekten des Spiels war die Mannschaft den Daten nach ligaweit nur unterdurchschnittlich. Gleiches gilt in der Offensive für die Effizienz vor dem Tor. Zwar kam das Hürzeler-Team im Durchschnitt auf fast 18 Schüsse pro Partie - beinahe sechs davon auf das Tor -, allerdings waren viele davon zu ungenau.
Ebenso sollte die Erfolgsquote bei Dribblings im letzten Drittel in den Fokus genommen werden. Trotz der hohen Zahl - knapp 25 im Schnitt pro Partie - fehlte auch hier die letzte Konsequenz, um noch mehr gefährliche Situationen zu kreieren.
Zudem könnten bei aller Passqualität, die die Mannschaft besitzt, das Timing und die Präzision der linienüberspielenden und progressiven Pässe höher sein. Das würde auch helfen, die hohe Zahl an progressiven Läufen - mit denen beispielsweise Tiefe im Spiel erzeugt oder Räume in der gegnerischen Defensive entstehen - besser auszunutzen.
Hürzeler hat viele Spieler besser gemacht
Hürzeler hat in der gerade zu Ende gegangenen Saison viele seiner Spieler besser gemacht: Den Daten zufolge lag der Performance-Score von 16 der 26 seiner Akteure am Ende der Spielzeit höher als zu Beginn. Offensiv wie defensiv. Von Innenverteidiger Karol Mets und Rechtsverteidiger Philipp Treu über Kapitän Jackson Irvine bis hin zu Flügelstürmer Oladapo Afolayan.
Doch bei aller Optimierung, die Hürzeler weiter vorantreiben wird, wird er auch Verstärkungen benötigen, um das Gesamtniveau anzuheben. Das auch, weil 13 seiner Spieler in der vergangenen Saison im Vergleich zu ihrer Karriere "überperformt" haben und zumindest die Frage besteht, ob sie das Jahr für Jahr wiederholen können.
Im Angriff braucht es eine weitere Alternative
Um im Angriff effektiver zu werden, würde etwa ein abschlussstarker Zielstürmer helfen. Johannes Eggestein hat zweifelsfrei eine starke Saison gespielt und ist durchaus bundesligatauglich, allerdings ging auch ihm bisweilen die Effizienz ab. Zumal er eher als Spielertyp "Falsche Neun" eingestuft werden kann, der sich immer wieder mit hoher Lauf- und Arbeitsrate ins Spiel einbringt, aber nicht der "klassische Vollstrecker" ist.
Spieler, die der Club ins Auge fassen könnte, sind die jungen und entwicklungsfähigen Stürmer Nik Prelec (22, WSG Tirol), Albion Rrahmani (23, Rapid Bukarest) und Uros Sremcevic (18, Roter Stern Belgrad).
Wie fängt St. Pauli Hartels Weggang auf?
Der Abgang von Hartel reißt ohne Frage eine große Lücke - und wirft für Hürzeler die Frage auf, wie er darauf reagiert. Hartel sammelte in dieser Saison mit 17 Toren und 13 Vorlagen 30 Scorerpunkte - und hatte damit wesentlichen Anteil am Aufstieg. Der 28-Jährige hatte doppelt so viele Scorerpunkte wie der in dieser Kategorie zweitplatzierte Irivine (15). Die zurückliegende Spielzeit war die mit Abstand beste in Hartels Karriere - auch er hat "überperformt", lag beispielsweise bei den Toren und Vorlagen oberhalb der Erwartungen.
Und obwohl auch bei ihm die Frage ist, ob er eine solche Leistung - zumal eine Liga höher - hätte reproduzieren können, geht Hürzeler für sein anspruchsvolles und intensives Spiel im 3-4-3-System einer der wichtigsten Akteure verloren. Denn jenseits der Tore und Vorlagen hat "Laufwunder" Hartel mit seinen Wegen Räume kreiert, Spielzüge mit ballfernen Bewegungen ausgelöst, das Pressing mit organisiert und defensive Akzente gesetzt.
Den gebürtigen Kölner eins zu eins zu ersetzen, wird fast unmöglich, daher wird die Last auf mehrere Schultern verteilt werden müssen, zudem könnte Hürzeler einen Systemwechsel in Erwägung ziehen.
Flexibilisiert Hürzeler sein 3-4-3-System?
Der könnte in einer Felxibilisierung des Systems liegen. In Frage kämen den Daten nach ein 3-5-2 oder ein 3-4-2-1 als Varianten. Das 3-5-2 böte mit drei Innenverteidigern, fünf Mittelfeldspielern (darunter zwei Flügelverteidiger) und zwei Stürmern ein hohes Maß an defensiver Flexibilität und offensiver Variabilität, hat insbesondere aber auf der Flügelverteidigerposition sehr hohe Anforderungen. Gleiches gilt in leichten Abwandlungen für das 3-4-2-1.
Eine weitere Option: Spieler aus dem Kader weiterzuentwickeln, Connor Metcalfe zum Beispiel. Der Linksfuß könnte eine größere Rolle im zentralen Mittelfeld übernehmen. Seine technischen Fähigkeiten, Spielintelligenz und seine Flexibilität machen ihn zu einem Kandidaten, um Hartels Aufgaben zu übernehmen. Auch der seit Januar ausgeliehene Aljoscha Kemlein könnte laut GSN in diese Rolle hineinwachsen. Die Frage ist, ob der künftige Ligakonkurrent Union Berlin ihn nach der starken Rückrunde bei den Braun-Weißen nochmal nach Hamburg ausleiht - oder ihn sogar ganz an den FCSP abgibt.
Alternativ bliebe die - schwierige - Suche nach einem gestandenen Spieler, der offensive wie defensive Stärken besitzt und zudem die Fähigkeit mitbringt, in verschiedenen Mittelfeldrollen zu agieren. Oder nach einem jungen, aufstrebenden Talent, das das Potenzial hat, sich zu einem Schlüsselspieler zu entwickeln. Das Anforderungsprofil laut GSN: ballsicher, genau im Passspiel, kreativ in der Spieleröffnung. Kanya Fujimoto (24, Gil Vicente), Afonso Sousa (24, Lech Posen) oder Tom Bayliss (25, Shrewsbury Town) könnten dafür in Frage kommen.
Defensives Mittelfeld und Flügelverteidiger
Sollte Hürzeler gemeinsam mit Sportchef Andreas Bornemann auf der Torhüterposition nach einer Alternative zu Nikola Vasilj suchen, wäre eine Verbesserung den Daten nach vor allem im Stellungsspiel, im Verteidigen von hohen Bällen sowie in der Kommunikation und in der Führungsqualität zu suchen, um die Abwehr mit zu koordinieren. Arnau Tenas (22, Paris Saint Germain), Nikola Cavlina (21, Lokomotive Zagreb) und Iker Álvarez (22, Villareal CF B) sind drei "mitspielende Torhüter", die diese Kriterien erfüllen könnten.
Um Druck von der Abwehr zu nehmen, würden dem Kader der GSN-Analyse zufolge zudem Alternativen im defensiven Mittelfeld - vor allem in puncto Balleroberung - und auf der Position des Außenverteidigers gut zu Gesicht stehen. Kristoffer Askildsen (23, UC Sampdoria) oder Neta Lavi (27, Gamba Osaka) im Mittelfeld sowie Cristo Romero (24, CF Intercity) und Álvaro Tejero (27, SD Eibar) in der Abwehr könnten hier in Betracht kommen.
Am Ende wird es auch ein Mix an Maßnahmen richten müssen bei St. Paulis Rückkehr in die Fußball-Bundesliga nach 13 Jahren. Auch und gerade in der Frage, wie man auf Hartels Weggang reagiert. Bei aller Euphorie über eine starke Saison beginnt die Arbeit für Hürzeler und Bornemann also gerade erst so richtig. Der Coach weiß um die Größe der Aufgabe - und hat auch deshalb im Moment der großen Feier kommunikativ ein wenig vorgebaut.