Urteil im Brokstedt-Prozess: Lebenslange Haft für tödliche Messerattacke
Vor dem Landgericht Itzehoe ist das Urteil gegen den Mann gefallen, der im Januar 2023 in einem Regionalzug bei Brokstedt zwei Menschen getötet und vier schwer verletzt hat. Er muss lebenslang ins Gefängnis.
Das Landgericht Itzehoe (Kreis Steinburg) hat den 34 Jahre alten Palästinenser wegen zweifachen Mordes und vierfachen versuchten Mordes verurteilt - zum Teil in Tateinheit mit gefährlicher und schwerer Körperverletzung. Die Kammer sah es als erwiesen an, dass der 34-Jährige Ibrahim A. im Januar 2023 in einem Regionalzug bei Brokstedt (Kreis Steinburg) zwei Menschen erstochen und vier schwer verletzt hat.
Richter stellen besondere Schwere der Schuld fest
Zudem stellte die Große Strafkammer die besondere Schwere der Schuld fest. Das bedeutet, dass eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung nach 15 Jahren praktisch ausgeschlossen ist. Mordmerkmale sieht das Gericht als erfüllt an, da der 34-Jährige in sämtlichen Fällen aus niedrigen Beweggründen und in fünf der Fälle mit Heimtücke gehandelt habe. Für die Einstufung als Mord sei zudem die willkürliche Auswahl der Opfer ausschlaggebend gewesen, so die Kammer.
Verteidiger von Ibrahim A. lässt mögliche Revision offen
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Zur Frage, ob sein Mandant in Revision gehen wolle, sagte der Verteidiger von A., dazu müsse er erst die schriftliche Urteilsbegründung abwarten.
Gericht hegt keine Zweifel an Schuldfähigkeit
Während des Prozesses hatte ein Gutachter gesagt, dass Ibrahim A. schon vor seiner Inhaftierung in Hamburg, rund ein Jahr vor der Tat in Brokstedt, an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) litt - ausgelöst durch seine Erlebnisse in Palästina und die Flucht. Das Gericht folgte dieser Einschätzung in seinem Urteil.
Es bestünden zwar keine Zweifel daran, dass Ibrahim A. in Palästina traumatische Erlebnisse hatte, doch deren Folgen stellten keine psychiatrische Erkrankung, sondern eine seelische Störung dar, so die Kammer. Die PTSB habe nicht die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters beeinflusst. Das Gericht sah weder Kriterien für die Diagnose einer Psychose noch einer Schizophrenie als erfüllt an. Schilderungen derartiger Symptome habe es lediglich aus der Haft-Zeit des Täters gegeben, nicht aber von Zeugen des Angriffs im Regionalzug.
"Was er wirklich hat, das wissen wir momentan ja gar nicht", mahnte Björn Seelbach, Anwalt von Ibrahim A. "Es ist eine Prognose gewesen - es gab verschiedene Prognosen. Viele Psychiater, die ihn gesehen haben, haben gesagt, sie gehen dringend davon aus, dass er eine Psychose hat." Weiteres bleibe also abzuwarten, so der Verteidiger weiter.
Messerangriff am 25. Januar 2023 in Brokstedt
Ibrahim A. hatte am Nachmittag des 25. Januar 2023 in einem Regionalzug auf der Fahrt von Kiel nach Hamburg mit einem Messer Fahrgäste angegriffen. Eine 17-Jährige und ihr 19 Jahre alter Freund starben. Vier weitere Fahrgäste wurden schwer verletzt. Der Täter wurde von Fahrgästen überwältigt. Rund zehn Monate lang wurden vor dem Landgericht fast 100 Zeuginnen und Zeugen befragt, Sachverständige gehört und ein Gutachten vorgestellt.
Staatsanwaltschaft forderte lebenslange Haft
Mit seinem Urteil folgt das Gericht weitgehend der Forderung der Staatsanwaltschaft: eine lebenslange Freiheitsstrafe und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Aus ihrer Sicht handelte der Angeklagte aus Frust - wegen seines ungeklärten ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus'. Auch ist das Gericht von der Tötungsabsicht überzeugt, da Ibrahim A. stets Angriffe auf Hals und Kopf ausgeübt habe.
Er war obdachlos, nachdem er wenige Tage zuvor in Hamburg aus der U-Haft entlassen worden war. Auch in dem Fall ging es um einen Messerangriff. Bei der Tat im Zug bei Brokstedt handelte der Angeklagte aus Sicht der Staatsanwaltschaft heimtückisch und nutzte die Arglosigkeit seiner Mitreisenden aus. Die Vertreter der Nebenklägerinnen und -kläger schlossen sich den Ausführungen im Wesentlichen an.
Verteidigung plädierte für Unterbringung in Psychiatrie
Der Verteidiger des Angeklagten hatte argumentiert, sein Mandant habe sich bedroht gefühlt. Er sei aufgrund einer psychischen Erkrankung schuldunfähig und solle deshalb in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht werden. Für den Fall, dass das Gericht die Schuldfähigkeit anders bewerte, hatte der Verteidiger eine Gesamtstrafe von zehn Jahren wegen zweifachen Totschlags sowie vierfacher gefährlicher oder schwerer Körperverletzung beantragt.
Richter: Tat war vorsätzlich
Das Gericht ging in seinem Urteil von Vorsatz aus. Ibrahim A. habe sich in Kiel schon überlegt, dass er Menschen töten wolle und habe deshalb das Messer in einem Laden gestohlen, sagte der Vorsitzende Richter am Mittwoch in der Urteilsbegründung. Im Kopf von Ibrahim A. passierte nach dem Besuch des Einwohnermeldeamtes in Kiel demnach offenbar etwas Entscheidendes. Nach dem Besuch des Rathauses reifte laut Richter bei dem Verurteilten der Entschluss, an diesem Tag beliebige Menschen zu töten.
Messer geklaut
Gegen 13 Uhr entwendete Ibrahim A. laut dem Gericht in einem Supermarkt das Messer und begab sich zum Kieler Hauptbahnhof. Dort bestieg er den ICE nach Hamburg, verließ ihn wieder. Wahrscheinlich habe er Drogen am Bahnhof gekauft, ein Getränk gestohlen, geraucht und sei wieder in einen ICE gestiegen. Nach Aufforderung des Zugpersonals verließ der Mann laut Richter den ICE in Neumünster und bestieg den Regionalexpress Richtung Hamburg.
Ibrahim A. bestreitet Schuld
Ibrahim A. hatte im Laufe des Prozesses seine Schuld bestritten und unter anderem behauptet, dass Messer gekauft zu haben, weil er zum Kochen verabredet gewesen sei. Das sei frei erfunden und durch die Beweisaufnahme widerlegt, so der Richter am Tag des Urteils. Da Ibrahim A. im Zug vor der Tat aufstand und sich dehnte, habe er sich damit auf die Tat vorbereitet. Auch der Behauptung des Verurteilten, er sei vor der Tat durch das 17 Jahre alte spätere Opfer beschimpft, beleidigt und provoziert worden, schenkte das Gericht keinen Glauben.
Gericht: Ibrahim A. wollte Amoklauf begehen
Die Anis-Amri-Anspielung des 34-Jährigen in der JVA Billwerder lies laut Richter erkennen, dass er schon da über vergleichbare Taten nachdachte. Dazu passe auch, dass Ibrahim A. nach der Tat mehrfach gefragt habe "Wie viele?". Er habe zudem gefragt, ob er schon in den Nachrichten sei und ob Al Jazeera über ihn berichtet habe. Nach Überzeugung des Gerichts wollte Ibrahim A. einen Amoklauf begehen und mehrere Menschen töten.
Richter: Opfer hatten keine Chance
Der Richter sprach von willkürlichen Opfern, die keine Chance hatten. Er bezeichnete das Geschehen als eine "erschütterliche Tat", die vielen Menschen Leid zugefügt habe.
Ibrahim A. wirkt gelangweilt
Während der Urteilsbegründung schilderte der Richter zum Teil sehr emotionale Zeugenaussagen. Ibrahim A. lachte währenddessen auf. Er schaute öfter ins Publikum, räkelte sich auf seinem Stuhl und wirkte extrem gelangweilt.
Die Frage nach der Schuldfähigkeit
Die Frage, ob der Angeklagte nun voll schuldunfähig oder vermindert schuldfähig ist, schwebte über dem gesamten Prozess. Immer wieder ging es in den Zeugenaussagen deshalb um Hinweise auf den psychischen Zustand des Angeklagten. So berichteten Zeuginnen und Zeugen, dass der Mann sowohl bei frühen Haftaufenthalten als auch in der Haft nach der Tat Stimmen und Klopfen gehört und in seinen Zellen randaliert habe. Teilweise soll er auch geglaubt haben, dass er abgehört oder bedroht werde. Bei der Tat in Brokstedt selbst wirkte er laut Zeuginnen und Zeugen fokussiert und emotionslos.
Gutachter sah keine schwere seelische Störung
Der psychiatrische Sachverständige Arno Deister war in seinem Gutachten zu dem Schluss gekommen, dass der Angeklagte an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Er sei zum Tatzeitpunkt aber einsichts- und steuerungsfähig gewesen. Es gebe daher keine Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit.
Zeugen schildern Tat und Folgen
Deutlich wurde in dem Prozess, wie sehr die Tat die Opfer, Angehörigen und Betroffenen auch langfristig erschüttert. Allen voran die Familien der beiden Getöteten, die ihre Kinder im Alter von 17 und 19 Jahren verloren haben. Die Verletzten haben teilweise mit schweren körperlichen, aber auch psychischen Folgen zu kämpfen. Die Zeuginnen und Zeugen, die in dem Zug waren, berichteten davon, dass sie teilweise Panik haben, wieder Bahn zu fahren - ein Zeuge brach demnach sogar seine Ausbildung ab.
Behörden-Chaos zeigt sich auch im Prozess
Im Prozess wurde außerdem noch einmal klar, an wie vielen Stellen der Angeklagte vor der Tat durch die Raster gefallen war. An zahlreichen Beratungsstellen für Wohnungslose war er jeweils nur wenige Male, sodass Mitarbeitende sich nur mithilfe von Aktenvermerken an ihn erinnern konnten. Da teilweise unklar war, welche Ausländerbehörde für ihn zuständig war, war sein Aufenthaltsstatus ebenfalls unklar, was aber wiederum für bestimmte Hilfsangebote wichtig gewesen wäre. Selbst der Richter musste mehrmals nachfragen, wie denn nun das richtige Vorgehen in so einem Fall sei und wann man zu welcher Behörde oder Stelle gehen muss. Auch verschiedene Angebote in der Hamburger U-Haft, wie eine Drogentherapie, konnten wegen der unklaren ausländerrechtlichen Fragen nicht beginnen oder endeten nach der Haft abrupt.
Ohnehin hatte es um den nun Verurteilten mehrere schwerwiegende Kommunikationsfehler zwischen verschiedenen Behörden gegeben, die beispielsweise im Innen- und Rechtsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags aufgearbeitet wurden.