Gutachter im Brokstedt-Prozess: Kein Hinweis auf Schuldunfähigkeit

Stand: 25.04.2024 20:41 Uhr

Im Verfahren um die Messerattacke in einem Regionalzug bei Brokstedt hat der psychiatrische Sachverständige sein Gutachten vorgestellt. Demnach sind die Bedingungen für eine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit nicht erfüllt.

von Friederike Schneider

Schon seit Prozessbeginn steht vor allem eine Frage im Vordergrund: Ist der Angeklagte, der im Januar 2023 in einem Regionalzug bei Brokstedt (Kreis Steinburg) zwei Menschen getötet und mehrere zum Teil schwer verletzt haben soll, psychisch krank und damit möglicherweise schuldunfähig? Mit Spannung wurde deshalb das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Arno Deister erwartet.

Gutachten: Angeklagter zur Tatzeit einsichts- und steuerungsfähig

Der Experte sieht bei dem Angeklagten keine Anhaltspunkte dafür, dass er zum Tatzeitpunkt schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war. Der Psychiater führte aus, dass es keine Hinweise für eine krankhafte seelische Störung zur Tat gegeben habe, auch gebe es keine Anhaltspunkte für eine verminderte Intelligenz. Zwar litt der Angeklagte laut dem Gutachten an einer schweren postraumatischen Belastungsstörung, sei aber einsichts- und steuerungsfähig gewesen.

Aus Sicht des Gutachters gibt es außerdem keine Voraussetzungen für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Auch die Verlegung in eine Erziehungsanstalt wegen eines Drogenkonsums sehe er eher nicht, da keine schwere Abhängigkeit erkennbar sei. Weiter sagte Deister, dass es schwierig sei, zu bewerten, ob eine Sicherungsverwahrung nötig sei. Er komme zu dem Schluss, dass ein gewisser Hang zu Straftaten im Sinne der gesetzlichen Regelung zur Sicherungsverwahrung besteht, eine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit also nicht ausgeschlossen sei.

Angeklagter litt an posttraumatischer Belastungsstörung

Deister vermutet, dass Ibrahim A. schon vor seiner Inhaftierung in Hamburg rund ein Jahr vor der Tat in Brokstedt an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) litt, ausgelöst durch seine Erlebnisse in Palästina und auch der Flucht. Dafür gebe es zahlreiche Hinweise. Zu diesem Zeitpunkt - also im Januar 2022 - sieht Deister die Kriterien für eine psychiatrische Erkrankung nicht erfüllt.

Psychotische Symptome einer PTBS

Während seiner Haft in Hamburg entwickelten sich laut dem Gutachter bei dem Angeklagten dann zunehmend psychotische Symptome wie halluzinierte Geräusche oder Stimmen. Zudem habe sich der 34-Jährige bedroht und verfolgt gefühlt - auffällig sei dabei, dass sich das oft auf Situationen bezog, die mit Erinnerungen an Palästina in Verbindung gebracht werden können. Dazu komme auffälliges Verhalten und Aggressivität. Dies unterstreicht laut Deister die PTBS-Diagnose.

Die Inhaftierung habe retraumatisierend gewirkt die Symptome verstärkt. Eine psychotische Störung damals lässt sich laut Deister aber weiterhin nicht diagnostizieren. Zum Zeitpunkt der Haftentlassung und auch zur Tatzeit war die Posttraumatische Belastungsstörung nach Angaben des Gutachters so schwer, dass sie als seelische Störung anzusehen sei - sie hat nach Ansicht von Deister aber nicht die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgehoben.

Drogenkonsum ja, aber ohne Auswirkungen auf den Tatzeitraum

Weiter heißt es in dem Gutachten, es gebe bei Ibrahim A. keine Anhaltspunkte für eine starke Drogenabhängigkeit. Zwar wiesen medizinische Untersuchungen darauf hin, dass der Angeklagte kurz vor dem Tattag Drogen wie Kokain oder Morphine konsumiert hatte. Eine Haaranalyse zeigt zudem, dass in den Monaten vor der Tat unregelmäßig verschiedene Substanzen wie Amphetamine, Opiate oder Morphine eingenommen wurden. Nachweislich wurde auch Methadon zugeführt. Diese Substanzen hätten in der Menge aber seiner Ansicht nach nicht zu einer Beeinträchtigung zur Tatzeit geführt, so Deister.

Der Gutachter sprach auch die Methadon-Behandlung in der JVA Billwerder an. Deister geht nicht von einer starken Drogenabhängigkeit des Angeklagten aus, dieser habe immer wieder bewiesen, dass er einige Zeit ohne Drogen auskomme und auch das Methadon immer wieder weggelassen. Es sei aber nicht ausreichend geprüft worden, ob und wie viel des Substitutionsmittels er gebraucht hätte. Zudem sei zu wenig unternommen worden, um eine korrekte Weiterbehandlung nach der Haftentlassung sicherzustellen.

Anwalt von Ibrahim A. hält Gutachten für solide - hat aber noch Fragen

Der Verteidiger des Angeklagten, Björn Seebach, kritisierte gegenüber NDR Schleswig-Holstein, dass der Gutachter zwar eine PTBS bestätigte, aber davon ausgeht, dass die Störung keine Auswirkungen während des Tatzeitraums gehabt habe. Weiter betonte Seebach, das Gutachten sei nicht abgeschlossen - es gebe noch viele Fragen zu den Ausführungen Deisters. Er selbst wolle am Freitag konkret zu der vom Gutachter ausgeschlossenen Psychose nachhaken.

Dass die Richter dem Gutachten letztlich nicht folgen werden, glaubt der Anwalt nicht. Dies komme zwar hin und wieder vor, "davon würde ich hier aber nicht ausgehen. Das schien mir doch sehr solide zu sein", so der Verteidiger.

JVA-Mediziner diagnostiziert akute psychotische Störung

Um sich ein Bild von dem Angeklagten zu machen, hatte der Gutachter unter anderem drei Gespräche mit ihm in der JVA Neumünster - danach wollte sich Ibrahim A. plötzlich nicht mehr äußern.

Außerdem hat der psychiatrische Sachverständige den Prozess von Anfang an verfolgt. Das Gericht hatte zahlreiche Zeuginnen und Zeuginnen geladen, die auch explizit zum psychischen Zustand des Mannes befragt wurden. Auch am Donnerstag sagte zuerst erneut ein Arzt aus der JVA Neumünster aus. Er schilderte - wie schon mehrere Zeuginnen und Zeugen zuvor - dass der Angeklagte in Haft extrem auffällig war. Der Mediziner bezeichnete den 34-Jährigen als "psychotisch eingebunden" und erlebte ihn nach eigenen Angaben als unruhig, fordernd und aggressiv.

Zudem berichtete er von seltsamem Lachen, bizarrem Verhalten, Selbstgesprächen und möglichen Halluzinationen. In dem Moment sei das für ihn ausreichend gewesen, um eine akute psychotische Störung zu diagnostizieren, der Angeklagte sei auch mit Medikamenten behandelt worden.

Insgesamt habe er den Angeklagten aber nur sporadisch erlebt und keine wirklichen Gespräche mit ihm geführt, so der Zeuge. Außerdem sei ihm durch andere JVA-Mitarbeitende zugetragen worden, dass der Angeklagte selbst den Wunsch geäußert habe, in eine forensische Abteilung verlegt zu werden - das habe ihn gewundert, sagte der Mediziner.

Mehrere Psychiater hielten Angeklagten für psychisch auffällig

Neben dem Mediziner aus der JVA Neumünster und weiteren Psychiatern wurden unter anderem Mitgefangene des Angeklagten befragt sowie medizinische Angestellte und andere Mitarbeitende von Haftanstalten, die den Mann zum Teil bereits vor seiner Tat in Brokstedt erlebt hatten, als er in der JVA Billwerder in Hamburg einsaß. Auch Mitarbeitende der Wohnungslosen- oder aus der Flüchtlingshilfe, die den Angeklagten betreut hatten, sollten Angaben dazu machen, wie sie ihn wahrgenommen hatten. Ebenso wurden die Zeuginnen und Zeugen der eigentlichen Tat, aber auch diejenigen, die dem Täter vorher am Tag begegnet waren, befragt, wie sich der Mann verhalten habe.

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Stimmen gehört, randaliert, provoziert

Dabei wurde unter anderem mehrfach genannt, dass der Mann in Haft Stimmen und Klopfen gehört und in seinen Zellen randaliert habe. Außerdem sei er zum Teil abwesend gewesen, dann aber wieder überdreht und launisch. Teilweise soll er auch geglaubt haben, dass er abgehört oder bedroht werde. Auch der Verteidiger hatte bereits mehrfach deutlich gemacht, dass er seinen Mandanten für psychisch krank hält und hatte darum gebeten, dass dieser schon während des Prozesses in einer Psychiatrie untergebracht wird.

Ein Mitgefangener sowie ein JVA-Beamter äußerten jedoch auch die Vermutung, dass der Angeklagte mit seinem Verhalten bewusst provozieren wollte oder versucht habe, auf eine andere Station verlegt zu werden, um von dort zu fliehen. Am Tattag selbst wurde er als ruhig, fokussiert und emotionslos beschrieben.

Angeklagter: "Die wollen, dass ich krank bin"

Der Angeklagte selbst hält sich für psychisch gesund. Sowohl in Gesprächen mit Psychiatern während seiner Haftzeiten, aber auch im Prozess selbst sagte er mehrfach, er sei nicht krank. Auch in den Gesprächen mit Gutachter Deister hatte er abgestritten, Stimmen oder Klopfen zu hören, wenn niemand da sei. Auf Nachfrage dazu sagte er demnach Dinge wie: "Die wollen, dass ich krank bin".

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 25.04.2024 | 17:00 Uhr

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