Opferschutz in SH: Was sich aus Brokstedt lernen lässt

Stand: 14.05.2024 14:57 Uhr

Nach dem Messerangriff von Brokstedt bekamen Betroffene und Augenzeugen viel Hilfe. Dafür hat sich die Opferschutzbeauftragte des Landes eingesetzt. Sie sagt aber auch: Es gibt noch Luft nach oben.

von Marian Schäfer

Es ist kurz vor drei Uhr am Nachmittag am 25. Januar 2023, als in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei Menschen sterben und mehrere teils schwer verletzt werden. 120 Menschen sitzen in dem Zug, in dem der mutmaßliche Täter Ibrahim A. wahllos und teils mehrfach auf Reisende eingestochen haben soll. Viele werden Zeugen dieser willkürlichen Tat, die endet, als einige Passagiere den Täter überwältigen können. Polizeibeamte nehmen Ibrahim A. in dem kleinen Bahnhof von Brokstedt (Kreis Steinburg) fest, Feuerwehrleute und Sanitäter gehören zu den Ersthelfern.

Auch Augenzeugen und Helfer brauchen oftmals Hilfe

Für Ulrike Stahlmann-Liebelt sind diese Menschen ebenso Opfer der Gewalttat von Brokstedt geworden wie die, die verletzt oder gar getötet wurden. "Diejenigen, die im Waggon bei der Tat zusehen mussten, sind auch verletzt worden und laufen ebenfalls Gefahr, traumatisiert zu werden", sagt die Opferschutzbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein. Als die Nachricht vom Messerangriff ihre Geschäftsstelle erreicht habe, seien zwei Mitarbeitende kurzentschlossen nach Brokstedt gereist. "Als sie ankamen, waren zwar keine Reisenden mehr vor Ort, aber noch Einsatzkräfte, denen sie Kärtchen mitgaben mit Kontaktstellen, sollten sie Probleme, Sorgen, Nöte haben."

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Blick auf den Bahnhof in Brokstedt. © picture alliance/dpa Foto: Christian Charisius

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Opferschutzbeauftragte koordinierte Hilfen

Stahlmann-Liebelts Posten und mit ihm die zentrale Anlaufstelle für Opfer von Gewalttaten und deren Angehörige gibt es seit Mitte 2020. Ihre Aufgabe besteht vor allem darin, Betroffene über ihre Rechte aufzuklären, ihre Fragen zu beantworten und sie zu passenden Hilfsangeboten zu vermitteln. Seit ihrer Gründung veranstaltet die Anlaufstelle auch Runde Tische, um die zahlreichen Hilfsangebote im Land untereinander bekannt zu machen und zu vernetzen, aber auch mit Akteuren wie der Polizei oder der Staatsanwaltschaft zusammenzubringen.

Das tat sie auch nach der Gewalttat von Brokstedt - ebenfalls mit einem Runden Tisch mit Vertretern unterschiedlichster Organisationen.

Verschiedene Akteure zusammenbringen

"Vertreten war dort zum Beispiel die Unfallkasse, das Amt für soziale Dienste und Hilfsorganisationen wie Wendepunkt oder der Weiße Ring, aber auch die Generalstaatsanwaltschaft und die Deutsche Bahn", erzählt die Opferschutzbeauftragte. Auf diese Weise habe man Betroffenen bei verschiedensten Fragen helfen - und Aufgaben klar verteilen können. Auch habe man dafür gesorgt, dass Akteure wie etwa die Unfallkassen proaktiv auf die Menschen zugegangen seien, so Stahlmann-Liebelt.

Hotline für professionelle Hilfe

Zudem habe es keine zwei Stunden nach der Tat eine offizielle Hilfe-Telefonnnummer gegeben. Hinter der standen Psychologen und Psychologinnen des auf sogenannte Großschadensereignisse spezialisierten Kölner Zentrums für Trauma- und Konfliktmanagement. Diese Profis leisteten Rat- und Hilfesuchenden sozusagen Erste Hilfe. "Es besteht schon länger eine Vereinbarung mit dem Zentrum, dass es uns bei Ereignissen wie diesen hilft", erzählt Stahlmann-Liebelt. "Die Empfehlung dazu kam aus unserem bundesweiten Netzwerk, in dem wir uns regelmäßig austauschen."

Trauma-Helfer: Klare Kommunikation und Zuständigkeiten

Sascha Niemann hat all das sehr geholfen. Der Diplom-Pädagoge leitet das Traumazentrum beim Verein Wendepunkt aus Elmshorn (Kreis Pinneberg). Über die Trauma-Ambulanz Westholstein ist das Traumazentrum offiziell für den Kreis Steinburg zuständig und war nach dem Messerangriff damit erster Ansprechpartner für die psychosoziale Betreuung und Therapie der Betroffenen. Niemann lobt die gute Kommunikation und die klare Zuständigkeiten, durch die er und seine Mitarbeitenden sich auf ihre Hauptaufgabe hätten konzentrieren können.

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Der Bahnhof von Brokstedt im Winter mit Schnee. © NDR Foto: Sofia Tchernomordik

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"Direkt nach dem Geschehen ging es natürlich nicht um Therapie, sondern um Akuthilfe", erzählt Niemann. "Es ist zum Beispiel wichtig, den Menschen zu vermitteln, dass gewisse Panikreaktionen normal sind, und ihnen etwa Atem-Übungen an die Hand zu geben, die ihnen helfen und sie stabilisieren können." 50 bis 60 Menschen betreute Niemann mit seinen KollegInnen akut und gut 20 langfristig. "Es melden sich noch heute Betroffene bei uns", sagt Niemann. "Das Tückische an Traumen ist, dass sie sich oft erst spät zeigen und mitunter durch andere Ereignisse im Leben ausgelöst werden."

Opferschutzbeauftragte schrieb 120 Betroffene direkt an

Dafür zu sensibilieren, das war auch der Opferschutzbeauftragten Ulrike Stahlmann-Liebelt ein Anliegen. Sie ließ sich von Polizei und Staatsanwaltschaft die Daten von rund 120 Menschen geben, die die Tat im Zug oder auf dem Bahnsteig, als Reisende oder als Ersthelfer miterleben mussten. Möglich macht dies das Opferunterstützungsgesetz, für das sich Stahlmann-Liebelt stark gemacht hat und das Ende 2022 in Kraft trat.

"Wir haben die Menschen kontaktiert und Hilfe angeboten - wenige Wochen nach der Tat, zu Prozessbeginn und auch als die Gedenkveranstaltung geplant wurde", erzählt die Opferschutzbeauftragte. Einige hätten auf die Kontaktaufnahmen nicht reagiert - viele aber schon. "Vor allem bei der Gedenkveranstaltung war es uns auch wichtig, dass die Menschen das Gefühl haben, beteiligt zu werden", sagt Stahlmann-Liebelt.

Opferschutz: Was künftig besser werden muss

Ulrike Stahlmann-Liebelt zufolge hat Brokstedt zwar gezeigt, dass die Strukturen des Opferschutzes und der Opferhilfe im Land funktionieren und dass die Einrichtung der zentralen Anlaufstelle für Opfer beim Land vor drei Jahren richtig war. Nicht nur die Verletzten und Toten sowie deren Familien in den Blick zu nehmen, sondern alle Betroffenen, sei wichtig.

Entsprechend kritisch sieht die Opferschutzbeauftragte, dass etwa Augenzeugen bei Gericht keinen gesetzlichen Anspruch auf eine professionelle psychosoziale Prozessbegleitung haben. "Hier braucht der Gesetzgeber einen anderen Blick", sagt Stahlmann-Liebelt in Richtung der dafür zuständigen Bundespolitik. Aktuell seien Betroffene darauf angewiesen, dass das Land diese Betreuung freiwillig finanziert.

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Bundesjustizministerium sieht keinen Handlungsbedarf

Auf Anfrage von NDR SH teilt eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums mit, dass die Betreuung von Ersthelfern und Augenzeugen derzeit bereits durch Zeugenbetreuungsstellen gewährleistet sei, die es an nahezu jedem Gerichtsstandort gebe. Die in der Strafprozessordnung geregelte psychosoziale Prozessbegleitung für Opfer schwerer Straftraten auszuweiten, erscheine schon deshalb als nicht sachgerecht, weil Zeuginnen und Zeugen eine ganz andere Rolle im Verfahren einnehmen würden.

Land gibt Geld für Opferschutz

Traumaspezialist Sascha Niemann hofft, dass der Opferschutz in Schleswig-Holstein weiter gestärkt wird. Anfang 2023 hatten die Fraktionen von CDU und Grünen als Konsequenz aus Brokstedt bereits ein Zehn-Punkte-Papier präsentiert, in dem unter anderem mehr Personal und Geld für Opferschutz gefordert wird. Tatsächlich sind seitdem Stellen aus Landesmitteln geschaffen worden - etwa bei Pro Familia in Flensburg und Lübeck, am Zentrumfür Integrative Psychiatrie in Kiel sowie auch beim Verein Wendepunkt von Sascha Niemann. "Der Opferschutz wird dadurch professionalisiert", sagt Niemann.

Was der Diplom-Pädagoge sich wünscht: Dass jeder Kreis und jede kreisfreie Stadt in Zukunft eine Trauma-Ambulanz bekommt, so wie sie es in den Kreisen Steinburg und Pinneberg und in Neumünster bereits gibt.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 14.05.2024 | 19:30 Uhr

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