Brokstedt-Prozess: Zeugen beschreiben Täter als fokussiert und emotionslos
Am zweiten Prozesstag nach der Sommerpause wurden weitere Fahrgäste aus dem Regionalzug befragt. Sie schilderten, wie sie das Geschehene zunächst nicht begreifen konnten - und wie ungewöhnlich ruhig der Täter gewesen sei.
Das wiederkehrende Geräusch an diesem Prozesstag ist das Klacken der Fußfesseln des Angeklagten, der zwischen den insgesamt fünf Vernehmungen immer wieder aus dem Sitzungssaal und wieder hineingeführt wird. "Straffes Zeugenprogramm" war schon vor Beginn auf den Fluren des Logistikzentrums zu hören, in denen die Verhandlung stattfindet.
Die am Dienstag befragten Zeuginnen und Zeugen saßen alle im vordersten Waggon des Zuges. Vier von ihnen gaben an, jeweils einen Angriff auf einen anderen Fahrgast gesehen zu haben. Ein Eindruck schien bei allen in Erinnerung geblieben zu sein: Wie ungewöhnlich ruhig die Tat ablief.
Lässig und selbstgefällig
Als emotionslos und fokussiert beschrieb eine Zeugin, die an diesem Tag die auf dem Weg zur Arbeit war, den Täter. Als die 30-Jährige im Bahnhof Brokstedt (Kreis Steinburg) Fahrgäste an sich vorbeirennen sah, dachte sie zuerst an einen Raubüberfall - wunderte sich dann aber, dass der Angreifer gar nicht die Tasche oder Wertgegenstände forderte. Er habe auch nichts gerufen, niemanden bedroht. Stattdessen habe sie gesehen, wie er mit einem Messer unvermittelt einen sitzenden Fahrgastes attackiert habe.
Später sah sie den Angreifer noch einmal auf dem Bahnsteig, ihrer Aussage nach habe er dort zwei Frauen verfolgt. Als er sie nicht habe einholen können, sei er langsamer geworden und "lässig" wieder in den Zug eingestiegen. Selbstgefällig habe er gewirkt und sich offenbar gefreut, dass er den Frauen Angst gemacht habe. Die 30-Jährige wirkte bei ihrer Aussage gefasst, doch ihre Stimme zitterte mehrmals, einmal war sie den Tränen nahe.
Zeugin: Täter starrte auf Messer und wischt Klinge ab
Auch eine weitere Zeugin, eine 52-Jährige, die auf dem Weg nach Wrist (Kreis Steinburg) war, musste Tränen zurückhalten, als sie beschrieb, wie sie gemeinsam mit anderen einem am Hals verletzten, stark blutenden Mann geholfen habe. Als dann jemand rief, der Täter sei aus dem Zug gestiegen, sei sie geflohen und habe sich versteckt.
Zuvor hatte die Frau ebenfalls beobachtet, wie der mutmaßliche Täter auf einen Fahrgast einstach. Bei ihr hatte sich das Bild eingebrannt, wie der Angreifer auf sein Messer starrte und mit der Hand über die Klinge strich. Sie habe das Geschehen wie in Zeitlupe und durch Watte wahrgenommen. Sie hatte zunächst an eine Beziehungstat oder einen Streit zwischen zwei Personen gedacht. Auch ihr war aber aufgefallen, wie ruhig und wenig hektisch es ablief.
Opfer scheinbar willkürlich angegriffen
Die Zeuginnen und Zeugen, die den Angriff mitangesehen hatten, berichteten außerdem, dass der Täter nach ihrem Eindruck willkürlich und wahllos auf die ihm am nächsten sitzende Person eingestochen habe. Einige erzählten davon, dass ein älterer Mann noch versucht habe, sich mit seinem Rucksack zu schützen. Eine fünfte Zeugin hatte als Ersthelferin einen stark blutenden Mann versorgt, sie beschrieb, wie ihm Blut pulsierend aus dem Hals lief.
Täter saß nach der Tat ruhig am Bahnsteig
Einige der Befragten hatten den Täter auch außerhalb des Zuges am Bahnsteig gesehen. Während eine Zeugin die Verfolgung der zwei Frauen beschrieb, sprachen andere davon, dass er sich suchend umgesehen hätte. Schließlich sei er wieder eingestiegen. Als der Täter später überwältigt und am Bahnsteig festgehalten wurde, sei er ebenfalls sehr ruhig gewesen und hätte einfach da gesessen. Ein 21-Jähriger berichtete davon, dass jemand dem Angreifer eine Zigarette gegeben habe, die dieser dann geraucht habe.
Der Angeklagte schaute während der Zeugenaussagen oft nach unten, auf seine Hände oder hielt den Kopf gesenkt, fast auf der Tischplatte. Er wippte hin und her, blätterte durch die Unterlagen. Ob er den Aussagen zuhörte und ihnen folgte, war nicht zu deuten. Hin und wieder schaute er auf und schien fast zu lächeln.
Panikattacken, Ängste und Schlafstörungen
Das Gericht fragte auch danach, wie es den Zeuginnen und Zeugen nach der Tat ging. Fast alle gaben an, dass sie das Geschehene nur mithilfe von Therapie bewältigen konnten. Eine Frau sprach von einem beklemmenden Gefühl und Übelkeit noch Wochen nach der Tat. Ein 19-Jähriger berichtete davon, dass er seit der Tat nicht mehr Zug fahren kann und deshalb seine Ausbildung abgebrochen habe, weil er nicht mehr zur Berufsschule fahren konnte. Eine 32-Jährige beschrieb, dass sie auf dem Bahnsteig nicht an dem Täter vorbeilaufen konnte, als dieser dort bereits festgehalten wurde.
Zeugenbefragungen bis Mitte September
Durch die Aussagen der Fahrgäste will das Gericht nachvollziehen, was sich Ende Januar in dem Regionalzug kurz vor und an der Haltestelle Brokstedt abgespielt hat. Deshalb spielte in den Befragungen auch eine große Rolle, wer wo ihm Zug saß und welche Handlungen beobachten konnte. Der Angeklagte Ibrahim A. soll mit einem Messer eine 17-Jährige und einen 19-Jährigen getötet und mehrere Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt haben. Ihm wird deshalb zweifacher Mord und versuchter Mord in vier Fällen vorgeworfen.
Auch bei den kommenden Terminen bis Mitte September ist laut Gericht die Vernehmung von Zeuginnen und Zeugen aus dem Zug geplant. Darunter werden auch die Menschen sein, die bei der Messerattacke verletzt wurden.
Gericht will 127 Zeugen hören
Vor der Sommerpause hatten bereits mehr als 20 Zeuginnen und Zeugen ausgesagt. Einige hatten die Messerattacke direkt mitangesehen, andere hatten das Verhalten von Ibrahim A. vor der Tat beschrieben. Auch Ersthelferinnen und Ersthelfer sowie Einsatzkräfte der Polizei sagten bereits aus. Auch Sachbeweise wie zum Beispiel Urkunden, Bilder und Notrufe wurden gesichtet.
Insgesamt will das Gericht 127 Tatzeuginnen und -zeugen befragen. Ein Urteil wird frühestens im Dezember erwartet.
Anwalt will Haftbeschwerde einlegen
Die Staatsanwaltschaft hält den Angeklagten für voll schuldfähig. Sein Verteidiger hingegen ist der Ansicht, dass Ibrahim A. zum Tatzeitpunkt unter einem akuten psychotischen Schub gelitten habe und somit vermutlich schuldunfähig sei. Er fordert deshalb, dass der mutmaßliche Täter schon während des Prozesses in einer geschlossenen Psychiatrie und nicht in U-Haft untergebracht wird. Das Landgericht hat das bislang abgelehnt. Inzwischen hat der Anwalt angekündigt, deshalb eine Haftbeschwerde beim Oberlandesgericht in Schleswig (Kreis Schleswig-Flensburg) vorzubereiten.