VIDEO: Itzehoe: Aussagen am 2. Prozesstag zum Brokstedt-Attentat (4 Min)

Brokstedt-Prozess: "Er hat sich zum Messer gebeugt und mich angegrinst"

Stand: 17.07.2023 16:45 Uhr

Am zweiten Prozesstag im Brokstedt-Prozess haben die ersten Zeugen ausgesagt. Gefasst berichtete eine Studentin aus Kiel von ihrer Zugfahrt - wie sie nah bei Ibrahim A. stand und er sie mit dem Messer in der Hand angrinste.

von Julia Schumacher

Als die erste Zeugin im Brokstedt-Prozess den Gerichtssaal des Landgerichts Itzehoe betritt, sitzt der Angeklagte Ibrahim A. aufmerksam, fast selbstbewusst auf seinem Stuhl und blickt der 22-Jährigen interessiert entgegen. Da, wo sie sitzt, ist sie keine zwei Meter von ihm entfernt. Sie können sich direkt anschauen.

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Ein Justizbeamter öffnet die Handschnellen des Angeklagten Ibrahim A. im Gerichtssaal. © dpa Foto: Christian Charisius

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Zeugin war auf dem Weg zu ihrer Mutter

Der Gerichtssaal mit dem Angeklagten, der Verteidigung und dem Richter. © Christian Charisius/dpa/Pool/dpa Foto: Christian Charisius
In einer Außenstelle des Landgerichts Itzehoe - im China Logistic Center - wird der Prozess gegen Ibrahim A. weitergeführt.

Sie wird gleich Schritt für Schritt und sachlich berichten, wie sie ihm am 25. Januar 2023 im Regionalexpress 70 von Kiel nach Hamburg begegnete - auf der Zugfahrt, um die es hier in 39 Prozesstagen gehen soll. Auf dieser Fahrt - so wirft es die Staatsanwaltschaft Ibrahim A. vor - soll er zwei Menschen mit einem Messer getötet und vier weitere zum Teil schwer verletzt haben. Zweifacher Mord und vierfacher Mordversuch, so lautet die Anklage.

Die erste Zeugin, eine Studentin aus Kiel, berichtet, wie sie an diesem Tag mit dem Zug nach Brokstedt zu ihrer Mutter unterwegs war, bei Neumünster den Sitzplatz wechselte, nachdem sie die Toilette aufsuchte, und sich in unmittelbarer Nähe des Angeklagten niederließ.

Ibrahim A. versperrte ihr den Weg zur Tür

Die Hände sind durch Handschellen am eigenen Körper fixiert. © Christian Charisius/dpa/Pool/dpa Foto: Christian Charisius
Ibrahim A. wird in den Gerichtssaal geführt, dabei sind seine Hände in Handschellen und am Körper fixiert.

Er sei ihr aufgefallen, als er angefangen habe seine Jacke auszuziehen, aufstand und "so eine Art Dehnübungen machte" - Ausfallschritte und Streckübungen mit den Armen. "Ich habe gedacht: Er ist lange gefahren, er sah auch blass und unruhig aus." So erklärte sie sich sein Verhalten.

Als sie sich kurz vor Brokstedt für den Ausstieg bereit machte, versperrte er ihr den Weg: "Ich hätte mich an ihm vorbeidrängen müssen. Ich hatte keine Lust, mit ihm zu kommunizieren, weil ich mich geärgert habe, dass er nicht einfach einen Schritt zur Seite gegangen ist." Deswegen habe sie sich entschieden, in die andere Richtung zum Ausgang zu gehen. Sie berichtet, einen Moment direkt vor ihm gestanden zu haben: "Er hat beobachtet, was ich mache, aber keine Anstalten gemacht, seine Position zu ändern."

Zeugin: Mit dem Messer in der Hand angegrinst

Beim Weggehen habe sie sich noch einmal umgedreht - und dabei das Messer gesehen, ein Küchenmesser, sagt sie. Sie sei etwa drei Meter von ihm entfernt gewesen: Er habe das Messer schon zu einem Teil aus einer Sporttasche herausgezogen, so dass sie es erkennen konnte. "Er hat sich zum Messer gebeugt, stand ruhig da, hat sich nicht bewegt, als er mich angeschaut hat und hat mich angegrinst.“ Das Grinsen habe sie in dem Moment so interpretiert, dass es sich gegen sie richten könnte: "Weil ich so nah an ihm dran war, dass er vielleicht sauer war und mich einschüchtern wollte, dass er da jetzt das Messer hat." Das Grinsen sei für sie bedrohlich gewesen. Sie wollte Hilfe rufen, hörte dann, wie ein Mann schrie: "Achtung, der Mann hat ein Messer!"

 

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Der Bahnhof Brokstedt. © picture alliance / dpa Foto: Daniel Bockwoldt

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Zeugin beschreibt Täter als "wahnhaft"

Sie beschreibt weiter, wie A. in Richtung Tür auf die wartenden Fahrgäste zuging, mit dem Messer in der Hand ein Mädchen an der Schulter packte, umdrehte und begann, auf sie einzustechen. Als ein junger Mann dazwischen gegangen sei, stach er auch auf ihn ein. Seinen Gesichtsausdruck währenddessen beschreibt sie als "etwas wahnhaft": die Augen seien sehr groß und rund gewesen. Dann ergriff auch sie die Flucht: "Ich habe dann gesehen, dass Panik ausgebrochen war und Menschen sich in meine Richtung bewegen und dann bin ich auch gelaufen."

Während sie Details der Tat aus ihrer Sicht berichtet und dabei gefasst und strukturiert auf die Fragen von Richter Johann Lohmann antwortet, sitzt Ibrahim A. ruhig da, mit akkurater Frisur und Rasur, im grünen Trainingsanzug. Hinter ihm sitzen zwei Wachen, nah bei ihm, in ständiger Aufmerksamkeit. A. schaut mal mit eingerastetem Blick, mal das Kinn auf die Brust gelegt vor sich hin, mal wach und interessiert zur Zeugin. Er wirkt, als würde er nicht begreifen, dass das Gesagte mit ihm zu tun hat.

Fahrgäste hielten Ibrahim A. auf

Die Zeugin berichtet weiter, wie der mutmaßliche Täter in dem Moment anfing, auf sein erstes Opfer einzustechen, als gerade die Durchsage für den Halt in Brokstedt kam, wie die Fahrgäste in Panik den Zug verließen und ihr eine Frau mit blutender Kopfwunde begegnete. Sie beschreibt, wie ein weiterer Verletzter und Ibrahim A. gleichzeitig in der Zugtür standen, das Messer auf dem Boden hinter A. Ein Fahrgast habe es in einen Mülleimer geworfen.

Die Zeugin versuchte dann, laut ihrer Aussage, dem Verletzten zu helfen. Ein anderer Fahrgast habe A. ins Gesicht geschlagen, um ihn festzusetzen. Bis Polizei und Rettungskräfte ankamen, sei es für einen Moment ruhig gewesen, so die Zeugin: "Das passte nicht so ganz zu dem, was vorher passiert ist."

Beim Zuhören wird klar, dass die Zeugin diese Ereignisse nicht zum ersten Mal berichtet. Sie ist gefasst, bis auf einen Moment: Als sie über die Tage danach und die Gedanken an die Familien der Opfer spricht, bricht ihr einmal die Stimme ab, sie klingt sehr betroffen.

Zweiter Zeuge: Herzrasen und Taubheitsgefühl

Nach einer Pause rief Richter Lohmann einen zweiten Zeugen auf, einen 21-Jährigen Studenten aus Hamburg. Auch er beschreibt, auf den Tatverdächtigen aufmerksam geworden zu sein, als dieser "komische Bewegungen" machte - sich auf Sitzlehnen stützte. Nach einem polternden Geräusch habe er im Augenwinkel ein Messer wahrgenommen, aufgeschaut und gesehen, wie A. auf eine Person einstach. Mit anderen Fahrgästen habe er den Zug verlassen, habe Herzrasen gehabt und noch einige Zeit ein mentales Taubheitsgefühl empfunden: "Danach musste ich so gut wie jeden Tag daran denken. Nach zwei, drei Wochen wurde es weniger." Ibrahim A. sagt den Prozesstag über nur einen Satz. Als der Richter ihn darauf hinweist, nach jeder Beweisaufnahme eine Stellungnahme abgeben zu können, sagt A.: "Vielleicht das nächste Mal."

Verteidiger will Angeklagten in Psychiatrie verlegen lassen

Im Anschluss an die Zeugenvernehmungen stellte Ibrahim A.s Pflichtverteidiger, Björn Seelbach, einen Haftprüfungsantrag. Ziel sei, den Angeklagten von der Untersuchungshaft in ein psychiatrisches Krankenhaus verlegen zu lassen.

Ein entscheidender Punkt des Prozesses bleibt, ob Ibrahim A. zum Tatzeitpunkt schuldfähig war, oder ob eine psychische Erkrankung "die Führung übernommen hat in seinem Kopf", so Seelbach. "Ich finde, durch die Aussagen der Zeugen ist das nicht widerlegt worden." Es stehe medizinisch gesehen nicht in Zweifel, dass A. erkrankt sei, so Seelbach. Die Staatsanwaltschaft hält den Angeklagten derzeit für schuldfähig.

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Gerichtssaal mit dem Angeklagten und seiner Verteidigung. © Christian Charisius/dpa-POOL/dpa Foto: Christian Charisius/dpa-POOL/dpa

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NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 17.07.2023 | 14:00 Uhr

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